Der Feind im Innern: Psychotherapie mit Täterintrojekten. Wie finden wir den Weg aus Ohnmacht und Gewalt? (German Edition)
der Eskalation der Gewalt von Serben gegen Kroaten gegen Muslime gegen Serben ... in rohen Verhältnissen groß geworden. Viele Männer machten, als der Krieg begann, freiwillig mit: nicht nur als Soldaten, sondern auch in Bürgermilizen, die z. B. im Kosovo von Haus zu Haus zogen und vergewaltigten, brandschatzten, mordeten. Auf einmal wurden die Nachbarn zu Feinden, der Nächste war der andere, den man qua Zugehörigkeit zu einer „Feindesgruppe“ foltern und töten durfte. Alles Kranke, alles Psychopathen? Das kann nicht sein. Thomas Elberts Satz: „In großen Konflikten können praktisch alle jungen Männer in diesen Killer-Modus kommen, in einen Jagd-Rausch“ ist sicher richtig.
Dennoch warne ich mit dem Autor und Journalisten Jonathan Littell, der über den Bürgerkrieg in Syrien geschrieben hat, davor, die Mörder-Karriere von Einzeltätern mit den Handlungsweisen der „Masse Mensch“ gleichzusetzen: „Der Krieg bewirkt Verbrechen, Entgleisungen, unglaubliche Brutalität und Sadismus. Aber es handelt sich immer um kollektive Gewalt, um den Wahnsinn der Gruppe, nicht um die Verrücktheit eines Einzelnen wie Anders Breivik in Norwegen. Hinter dem massenhaften Morden ist immer ein System am Werk, eine administrative Organisation des Tötens“ (2012, S. 137).
Es bleibt allerdings die Frage, ob es nicht bestimmte soziale und politische Situationen gibt, die den Zerfall von Gesellschaften und das Entstehen von Bürgerkriegen begünstigen, und welche Rolle Einzelne dabei spielen können (s. auch Kapitel 2, „Krieg im Alltag“).
16.3 Der Fall Anders Breivik – ein Lehrstück
Der Kriegsberichterstatter und Schriftsteller Jonathan Little nennt Breiviks Taten – dieser verübte am 22. Juli 2011 einen Sprengstoffanschlag auf das Regierungsviertel in Oslo und ermordete insgesamt 77 Menschen, die meisten in einem Jugendferienlager der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei auf der Insel Utoya – „Verrücktheit eines Einzelnen“. Das mag stimmen. Dennoch lohnt es sich, den Fall genauer anzuschauen.
Anders Behring Breivik wurde am 13. Februar 1979 in Oslo geboren. Sein Vater war zu diesem Zeitpunkt bereits pensionierter Diplomat, seine Mutter Krankenschwester. Ein Jahr nach Breiviks Geburt ließen sich die Eltern scheiden. Was in der Berichtserstattung über den Fall in den meisten Ländern kaum erwähnt wurde, stand im ersten psychiatrischen Gerichtsgutachten über Breivik: Dass er als Kind bindungstraumatisiert wurde (so musste er der Mutter weggenommen und eine Zeit lang einer Pflegefamilie gegeben werden, kehrte aber offenbar zur Mutter zurück). Aller Wahrscheinlichkeit nach wurde er sexuell misshandelt. „‚Damals wurde noch nicht viel über sexuellen Missbrauch von Kindern gesprochen. Ich fürchte, dass Breivik Dinge erleben musste, mit denen er nicht hätte leben sollen‘, sagte ein Bekannter der Familie dem Journalisten des norwegischen Rundfunks.“ Auch wurde darauf eingegangen, dass Breivik sich einverstanden erklärt hatte, alle seine persönlichen Daten zu nutzen – nur einen Zeitraum seines Lebens hatte er ausgenommen: seine Kindheit. Breiviks Verteidiger Geir Lippestatt „ zeigte sich schockiert von dem psychiatrischen Gutachten. Breivik sei unter Bedingungen aufgewachsen, die große Bedeutung für das laufende Gerichtsverfahren hätten“ ( http://www.news.orf.at am 29. 11. 2011).
„Nachdem zwei psychiatrische Gutachten den norwegischen Attentäter Anders Behring Breivik gestern für ‚unzurechnungsfähig‘ erklärten, zeigte dieser sich ‚gekränkt‘. Das teilte ein Polizeisprecher in Oslo mit. Unterdessen mutmaßen ein Bekannter der Familie Breivik sowie der Sender NRK, dass der selbsternannte ‚perfekteste Ritter seit dem Zweiten Weltkrieg‘ in seiner Kindheit sexuell missbraucht wurde.
Dies könnte die Ursache für seine paranoide Schizophrenie sein. Als Breivik vier Jahre alt war, empfahl ein Psychologe, ihn in ein Kinderheim zu geben, weil sich seine Eltern nicht ordentlich um ihn kümmerten. Statt in das Heim kam Breivik kurze Zeit zu einer Pflegefamilie. Sein Vater brach später gegen seinen Willen den Kontakt zu ihm ab. Er war selbst einmal Mitglied bei der sozialdemokratischen Jugendorganisation, bei deren Jugendlager Breivik im Juli 2011 ein Massaker anrichtete [Hervorhebungen MH].
Sollte das Gericht dem Gutachten folgen, würde Breivik wohl auf unbestimmte Zeit in eine psychiatrische Anstalt eingewiesen werden. Bereits in seinem Manifest 2083 hatte Breivik
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