Der Feind im Innern: Psychotherapie mit Täterintrojekten. Wie finden wir den Weg aus Ohnmacht und Gewalt? (German Edition)
befürchtet, man werde ihn für verrückt erklären. Dass dies nun tatsächlich so gekommen ist, widerlegt all jene, die behauptet haben, hier sei ein rechtsextremer ‚Islamhasser‘ am Werk gewesen“ ( http://www.blauenarzisse.de [10] am 30.11.11).
Nun, ein rechtsextremer „Islamhasser“ war Breivik ganz offenbar. Und ein Sozialdemokratenhasser. Ein Ausländerhasser. Und ein Frauenhasser. Vermutlich hasste er seine Mutter, die ihn nicht geschützt, und seinen Vater, der im Jugendlager auf Utoya glücklich gewesen war und den Jungen so früh verlassen hatte. Breivik fürchtete es, vor Gericht mit seinen Kindheitsbelastungen konfrontiert zu werden. Er wollte kein „Weichei“, sondern ein „politischer Kämpfer“ sein. All dies geht zweifelsfrei aus seinem „Manifest“ hervor, das im Gerichtssaal noch einmal in Ausschnitten gezeigt wurde – der einzige Moment, an dem Breivik Gefühle zeigte. Als er die sirenenartige Frauenstimme singen hörte, mit der er das „Manifest“ unterlegt hatte, und Ausschnitte aus seiner Online-Präsentation sah, brach er sichtlich berührt in Tränen aus. Etliche Verhandlungstage waren auf YouTube zu sehen, sodass man sich selbst ein Bild dieses ganz offensichtlich psychisch kranken Mannes machen konnte.
Von der Staatsanwältin gefragt, warum er geweint habe, antwortet Breivik in seiner verquasten Sprache, die ihm seit ein paar Jahren offenbar zu eigen war: „Der Film hat mich berührt. Weil ich daran denken musste, dass unser Land dabei ist zu sterben. Und dass meine eigene ethnische Gruppe dabei ist zu sterben. Es ist die Sorge darüber, zusehen zu müssen, wie das eigene Land und das eigene Volk dekonstruiert werden.“
In dem entsprechenden Live-Mitschnitt aus dem Gericht [11] sind einige seiner Folien aus dem „Manifest“ eingeblendet. Offenbar verstand er sich als ein Mitglied einer Gemeinschaft von „wahren Rittern“, welche die Menschheit gegen Liberale, Islam-Gläubige, Sozialdemokraten und mütterliche Frauen verteidigen müssten. Hier eine der Folien in meiner Übersetzung:
„Die Tempelritter Europas arbeiten daran, Folgendes durchzusetzen:
Einheit – nicht Diversität
Monokulturalismus – nicht Multikulturalismus
Patriarchat – nicht Matriarchat
Europäischer Isolationismus – nicht europäischer Imperialismus“
Verrücktheit eines Einzelnen? Mit solchen Ansichten jedenfalls hat er sicher viele männliche Gesinnungsgenossen.
Breivik ist nicht allein
Breivik war geprägt von sozialen, beruflichen und Beziehungskatastrophen – und von Gewaltspielen. Seit 2007, wie der Staatsanwalt (der betonte, diese Passagen in seiner Befragung Breiviks hätten ihn sehr berührt) im Prozess ausführte, spielte Breivik exzessiv, nonstop, Tag und Nacht, süchtig und für ihn „quälend“ das Computerspiel „World of Warcraft“, das offenbar seine Fantasie bis ins Krankhafte anregte. Denn in dieser Zeit, in der er begann, Tag und Nacht dieses Spiel zu spielen, bis er darin nach eigenen Aussagen „sehr gut“ war – in dieser Zeit begann er, nebenher sein „Manifest“ zu schreiben und seine Taten zu planen. Das Spiel hatte ihn in seinen Bann gezogen, so sehr, dass er darin lebte und glaubte, selbst einer der Weltenretter und Top-„Ritter“ zu sein, die er sich erschuf. Jeder, der seine prahlerischen, aber auch sichtlich verwirrten Auftritte vor Gericht erlebte, konnte sehen, dass der Mann eine schwere psychische Erkrankung hat. Doch offenbar wollte man ihn als einen geistig gesunden terroristischen Fanatiker erscheinen lassen, um ihn lebenslang ins Gefängnis verbannen und damit sühnen lassen zu können für seine schrecklichen Taten. Selbstverständlich war es vollkommen „durchgedreht“, als Einzelner einen brutalen Angriff auf den liberalen Staat, auf Jugendliche und Frauen, auf Andersdenkende und Andersgläubige zu verüben. Doch vielleicht wäre es wichtig, mehr auf den persönlichen wie den sozialen und politischen Hintergrund seiner Taten zu achten. In einem beeindruckten Dossier in Le Monde diplomatique (Juli 2012) untersuchten Rémi Nilsen (S. 6–7, im Folgenden zitiert als „Nilsen“) sowie Evelynne Pieiller (S. 7, im Folgenden zitiert als „Pieiller“) das politische und kulturelle Umfeld des Attentäters. Der norwegische Redakteur des Monde diplomatique , Rémi Nilsen: „Ein Mensch, der kaltblütig Kinder umbringt, ist per definitionem ein Psychopath ... Doch ... in dem 1500-seitigen ‚Manifest‘ ... befasst er sich mit Themen, die in
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