Der Feind im Innern: Psychotherapie mit Täterintrojekten. Wie finden wir den Weg aus Ohnmacht und Gewalt? (German Edition)
Therapie den Mann überzeugend in seiner Reue und war schon bereit, ihm ein positives Gutachten auszustellen. Dann fand man das Tagebuch des Täters. Als Woodworth den Inhalt zu lesen bekam, war er sehr erschrocken: „Nicht nur hatte meine Therapie keine wirklichen Fortschritte gebracht, sondern sie hatte auch noch geschadet. Denn der Täter fühlte sich im Laufe der Therapie nur noch mehr in seinen Fantasien bestätigt und war noch mehr entschlossen, Kinder zu missbrauchen und zu töten.“ In etlichen Einträgen hatte sich der Häftling zynisch über die Therapie lustig gemacht: „Heute hab ich es geschafft, in der Therapie ein paar Tränchen zu verdrücken – und der Idiot von Therapeut war ganz gerührt – hahaha!“
Gerade bei hoch kriminellen Straftätern mit hohem Rückfallrisiko ist es wirklich kein Vergnügen, sie gutachterlich einschätzen zu müssen. Und auch TherapeutInnen lassen sich oft von der harmlosen netten Fassade eines Alltags-Ichs zu der Annahme verleiten, der Straftäter sei jetzt geläutert. Seine anderen Zustände bekommt man bestenfalls zu hören, meist nicht zu sehen. Nahlah Saimeh, medizinische Direktorin und Gutachterin in der Forensischen Psychiatrie in Lippstadt zitiert im Film von Karin Jurschik einen ihrer Patienten, der zu ihr sagte: „Ich habe hinter einen Vorhang geguckt, hinter den Sie nicht gucken werden.“ Die Menschen, die ihren Gewaltfantasien bis zum Exzess des Tötens nachgegeben haben, hätten nichts mehr mit der normalen Welt zu tun, ihre Erfahrungen seien nicht auslöschbar und damit auch nicht ihr Hang, „es“ wieder zu tun, so Saimeh.
Stimmt das? Wenn man sich ansieht, wie in Kriegen und Bürgerkriegen Männer zu „Killern“ mutieren und vorher ebenso wie danach als „ganz normale Bürger“ leben, muss man sich fragen, ob diese Fähigkeit zur tödlichen Gewalt gegen andere – und zwar auch außerhalb jeder Notwehr – nicht in allen Menschen steckt.
16.2 Freiwillige Killer – „ganz normale Männer“
Der Kulturwissenschaftler Harald Welzer hat, wie viele seiner Kollegen, das Verhalten „ganz normaler Männer“ im Nationalsozialismus untersucht, etwa das des Polizei-Reservebataillons 101 aus Hamburg (siehe auch Browning 1998), das in Polen die „Endlösung“, also die Tötung jüdischer Menschen, vorantrieb. Er betont: „Den 500 Männern, die wussten, dass sie Männer, Frauen und Kinder erschießen sollten, wurde freigestellt, ob sie mitschießen wollten oder nicht. Nur sechs bis elf Männer haben das abgelehnt, alle anderen machten mit.“ Wie ist so etwas überhaupt zu verstehen? Welzer: „Rassistische totalitäre Systeme sprechen bestimmten Gruppen die Zugehörigkeit zur Gemeinschaft ab. Die können dann anders behandelt werden ... Die Nichtzugehörigen werden entrechtet, beraubt und schließlich getötet. Insgesamt hat dieser Prozess nur acht Jahre in der Bevölkerung gebraucht, dann war dieses Vorgehen für die meisten sinnhaft ... Würden wir anders handeln?“ (in: Jurschik 2012). Eine beunruhigende Frage.
Aber, werden manche einwenden, das gilt doch nur für totalitäre Regime wie den Nationalsozialismus. Wirklich? Der Neuropsychologe Thomas Elbert untersucht im Ostkongo, dem früheren Belgisch-Kongo – eine Gegend, in der es in den letzten Jahrzehnten drei bis fünf Millionen Tote in Bürgerkriegen gegeben hat –, warum dort die Kämpfe so besonders grausam und brutal sind. Eine seiner Fragen: Wie wird ein Kind zu einer Tötungsmaschine, einem sogenannten Kindersoldaten, gemacht? Seine Fazit: „Die Täter sind zu 95 % Männer. In Deutschland gelten solche Täter als abnormal, weil so selten, man spricht dann von Psychopathie, von antisozialer Persönlichkeitsstörung. Doch in großen Konflikten können praktisch alle jungen Männer in diesen Killer-Modus kommen, in einen Jagd-Rausch.“ Alle Täter seien selbst schwer traumatisiert durch das, was sie gezwungen wurden zu tun und was man ihnen antat, damit sie bereit waren, jederzeit jeden zu foltern, zu vergewaltigen, zu töten. „Die erlittenen Traumata lassen sich behandeln, aber die Lust an der Gewalt bleibt“, warnt Elbert (in: Jurschik 2012), der sich mit vielen ehemaligen Kindersoldaten unterhalten hat. Denn: „Tötungshemmung geht über höhere kognitive Entwicklung, die muss man lernen, wenn das aber nicht gelernt wird ...“
Wer wie ich den Balkan nach den Bürgerkriegen bereist und dort gearbeitet hat, wird genau dies bestätigen können: Viele Menschen waren schon vor
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