Der Feind im Innern: Psychotherapie mit Täterintrojekten. Wie finden wir den Weg aus Ohnmacht und Gewalt? (German Edition)
Norwegen keineswegs tabu sind. Zum Beispiel mit der Angst vor dem Untergang der christlichen europäischen Kultur, die durch eine allzu großzügige Migrationspolitik bedroht sei ... Diese Positionen sind denen der Fortschrittspartei durchaus ähnlich [der Breivik einige Zeit angehörte, MH].“
2009 wurde die Fortschrittspartei mit 23 % zweitstärkste Kraft im norwegischen Parlament. Einer ihrer Politiker meinte: „Ich fürchte, ein neuer Kreuzzug ist unausweichlich.“ Die meisten der Norweger (70 %) bestätigen, dass sie „die Kultur der Immigranten und ihre Teilnahme am aktiven Leben schätzen“ (Nilsen). Wie lassen sich dann die Islamophobie und der Hass gegen die Arbeiterpartei in einem Großteil der norwegischen Gesellschaft heute erklären? Eine Studie stellte fest: „Seit 1990 ist die Differenz zwischen dem, was die Ein-Prozent-Gruppe der reichsten Norweger verdient, und dem Durchschnittseinkommen deutlich schneller gewachsen“ als in anderen Ländern. „Der Anteil der Mittelschichten am Geldvermögen hat sich zwischen 1984 und 2008 halbiert. Die Einkommen der Reichsten sind stark angestiegen, der Anteil der Löhne am Wertzuwachs dagegen ist gesunken“ (Nilsen). Dies gilt auch für die übrigen westeuropäischen Länder. So konnte die Einwanderungsfrage plötzlich in den Fokus rücken, und genau das machen sich rechte Parteien wie die Fortschrittspartei zunutze. Interessanterweise sind es nicht die Arbeiter, die ihr zulaufen, sondern die untere Mittelschicht, die zusehends verarmt. Da der Umverteilungskampf von unten nach oben nicht thematisiert wird, rücken die kulturellen Konflikte ins Zentrum.
Ein Prozess, der überall in Europa stattfindet und der zur Folge hat, dass sich Angst ausbreitet. Der Wirtschaftswissenschaftler Ali Esbati weist darauf hin, dass die Angriffe auf das Gesundheitswesen und die Rechte der Arbeitnehmer, die zunehmende Konzentration von Macht in der Hand weniger immer mehr den Rechten in die Hände spiele, die jetzt die Chance bekämen, „die allgemeine Angst auszubeuten und eine soziale Landschaft herzustellen, die durch ethnische und religiöse Trennlinien zerklüftet ist“ (Nilsen).
Die französische Schriftstellerin Evelyne Pieiller wiederum stellt sich dem allgemeinen Anschein, Norwegen sei ein Hort harmonischer Ausgleichskultur, der auch in deutschen Medien gepflegt wird, entgegen und betrachtet das „ganz eigene privatistische Erbe rechter Kultur“ in dem skandinavischen Land, in dem Black Metal seit Anfang der 1990er-Jahre ein Teil des Mainstreams ist: „Die Atmosphäre des Black Metal gleicht der einer schwarzen Messe, einer kriegerischen Beschwörung ... Die Texte sind nicht explizit politisch, sondern frönen einem gewaltverherrlichenden Nihilismus. Im Mayhem [12] -Stück „View from Nihil“ heißt es: ,Ich kann die ans Ufer treibenden Trümmer der sterbenden Kultur sehen‘. ... Das sind zwar keine Naziparolen, aber durchaus Anlehnungen an die Wurzeln des Nazismus: Hass auf die Gesellschaft, Sehnsucht nach verlorener Reinheit, nach der alten Zeit und der ewigen Natur. Glorifiziert werden ein unklares Heidentum, schrankenlose Gewalt und die reinigende Kraft des Blutes.“ Varg Vikernes, Gründer der Black-Metal-Band Burzum, der wegen der Ermordung eines Bandmitglieds 16 Jahre im Gefängnis saß und wieder auf freiem Fuß ist, trägt seinen Fanatismus heute offen zur Schau. Auf seiner Website schreibt er: „Wir sind schwach geworden, wir wurden gebrochen und ruiniert, denn wir haben die Freiheit geopfert, um uns Sicherheit zu kaufen.“ Gemeinsamer Feind mit der gesamten Rechten ist die Demokratie – und die Juden bzw. Muslime. „Vikernes übrigens bedauert, dass Breivik einen Nationalismus ohne Antisemitismus vertrete“ (Pieller), ansonsten findet er offenbar Breiviks Vorgehen ganz in Ordnung.
Und Evelyne Pieiller weist darauf hin, dass eine solche Gesinnung in allen europäischen Gesellschaften um sich greift. „So raunt es entsprechend dem Geist der Zeit, dass die Geschichte keinen Sinn habe, ebenso wenig wie Fortschritt oder Demokratie, und dass einzig die Rückkehr zur naturgegebenen Ordnung und zu den Hierarchien unserer Vorfahren der Wahrheit des Menschen angemessen sei.“
Anders Breivik ist also ein kleiner dicker Kreuz-Ritter für die „rechte“ Sache. Der verlassene und laut erstem Gutachten schwer bindungsgestörte und misshandelte Junge hat beim Aufwachsen sein persönliches Scheitern immer wieder erlebt; er hat eine geistige Heimat
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