Der Feind im Innern: Psychotherapie mit Täterintrojekten. Wie finden wir den Weg aus Ohnmacht und Gewalt? (German Edition)
ist, weil es überhaupt kein Gefühl
für Ausmaß und Dauer der Strapazen hat.“
Daniel Kahnemann
Was der Psychologe und Nobelpreisträger (für Wirtschaft!) Daniel Kahnemann in einem Spiegel -Interview (2012, S. 109) sagte, bringt die Erkenntnisse moderner Persönlichkeitsforschung auf einen Punkt, nämlich: So etwas wie eine einheitliche, durchgängige, ganze, ungespaltene Persönlichkeit gibt es gar nicht. Wir sollten uns davon verabschieden, nach dem „Eigentlichen“ in einem Menschen zu suchen.
Stattdessen unterscheiden, so Kahnemann, „Psychologen ... ein ‚System 1‘ und ein ‚System 2‘, die unser Handeln steuern. System 1 steht für die Intuition. Es erzeugt unermüdlich Absichten, Eindrücke und Gefühle. System 2 dagegen steht für Vernunft, Selbstkontrolle und Intelligenz ... System 2 bin ich, also derjenige, der glaubt, die Entscheidungen zu fällen. In Wirklichkeit allerdings ist der Einfluss von System 1 enorm ... Sie werden gewissermaßen regiert von einem Fremden, ohne dass Sie es merken ... System 1 kann nie abgeschaltet werden, Sie können es nicht daran hindern, sein Ding zu machen. System 2 hingegen ist faul und springt nur an, wenn es sein muss. Das langsame bewusste Denken ist aufwendig und deshalb leisten wir uns das nur selten ... es verbraucht chemische Ressourcen im Gehirn“ (ebd.).
Ernüchternd, nicht wahr? Offenbar leben wir nach dem Motto: Das Bewusstsein denkt, das Unbewusste lenkt. Und es ist keineswegs umgekehrt, wie uns unsere Eltern weismachen wollen: „Beherrsch dich!“ – das funktioniert manchmal und unter Anstrengungen. Häufiger jedoch folgen wir ganz offenbar unseren Instinkten, die ebenso biologisch fundiert wie durch Erfahrung erlernt sind. Meist gehorchen wir dem Diktat des Unbewussten, ohne uns bewusst dagegen wehren zu können.
3.1 Strukturelle Dissoziation
Wenn das schon im Normalfall so ist, wie aufgeteilt sind wir wohl, wenn wir durch Schocks, wie etwa Traumata, zum zusätzlichen Abspalten von unerträglichen Erlebnisqualitäten gezwungen werden? Eine Antwort auf diese Frage gibt am überzeugendsten – weil auf neurobiologischen und neurophysiologischen Ergebnissen fußend – die strukturelle Dissoziationstheorie (s. Van der Hart, Nijenhuis & Steele 2009). Diese wiederum gründet auf einen der Pioniere der Psychotherapie, von dem auch Freud, Jung, Adler und andere viel lernten und der leider im Gegensatz zu letzteren keine psychotherapeutische Schule begründet hat: Pierre Janet (1859-1947).
Janet war ein Einzelgänger, er kam über die Philosophie zu eigenen Erkenntnissen über die Psyche, sowohl als experimenteller Psychologe als auch als lehrender Philosoph; von ihm stammt ursprünglich die Unterscheidung zwischen Bewusstsein und Unbewusstem; er war es, der den Begriff „Dissoziation“ zum ersten Mal im psychologischen Sinne verwandte, nämlich als eine „Aufteilung von Systemen und Funktionen, aus denen sich Persönlichkeit zusammensetzt“ (1907, S. 332).
Strukturelle Dissoziation erfolgt unter massivem äußerem Stress und ist damit mehr als nur eine grobe Aufteilung in Bewusstsein und Unbewusstem. Sie geschieht dann, wenn das Informationsverarbeitungssystem Gehirn überflutet wird mit Informationen, die von seinen „Rauchmeldern“ als so gefährlich eingestuft werden, dass sie isoliert werden müssen, sozusagen zum Selbstschutz. Wann geschieht das? Zum Beispiel wenn wir ganz plötzlich und radikal mit etwas konfrontiert werden, bei dem wir den Eindruck haben: „Jetzt ist alles aus!“ Ein Unfall reißt uns aus Zeit und Raum; der für uns wichtigste Mensch verlässt uns von einem Moment auf den anderen für immer; der Arzt erklärt uns, wir hätten eine lebensbedrohliche Erkrankung etc. Bei Kindern treten solche furchtbar radikalen Momente schon bei – für Erwachsene! – viel „harmloseren“ Situationen auf: Sie müssen ins Krankenhaus und sehen, wie ihre Eltern weggehen und sie dort allein bei fremden Menschen bleiben müssen; ihre Eltern streiten sich so, dass die Kinder das Gefühl haben, einer der Eltern wird für immer weggehen; die Mutter sagt: „Hätte ich dich doch nie geboren“; der Vater wirft ein Kind auf den Boden, klemmt es mit den Füßen ein und prügelt auf es ein; die Mutter steht reglos daneben, während Vater einem Geschwisterkind gegenüber „ausrastet“, schreit, tritt, schlägt ... Bei noch kleineren Kindern können die Anlässe – aus der Sicht der Erwachsenen! – noch geringer sein: Das Kind kommt
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