Der Feind im Innern: Psychotherapie mit Täterintrojekten. Wie finden wir den Weg aus Ohnmacht und Gewalt? (German Edition)
mit der Mutter aus dem Krankenhaus nach Hause, es ist wenige Tage alt und die Eltern sperren es nachts in ein dunkles Zimmer in ein Bettchen und lassen es schreien; die Mutter stellt den Kinderwagen mit dem weinenden Kind auf den kalten Balkon und geht einkaufen; das Kind wird allein gelassen und nässt oder kotet ein und die Mutter schimpft, wenn sie kommt; das Baby hört die Mutter nicht, die an ihm herumnestelt und es stillt oder die Windel wechselt, weil die Mutter entweder zu leise spricht oder gerade telefoniert, aufs Fernsehbild starrt oder sich mit jemandem streitet.
In all diesen Fällen scheint unser kluges Gehirn ebenfalls eine Zweiteilung vorzunehmen: eine zwischen dem Alltagsbewusstsein, das noch funktionieren darf und muss und daher von zahlreichen unliebsamen Reizen ferngehalten wird – und den Bereichen des Erlebens, in denen solche schrillen, überstarken Erlebnismomente gespeichert sind. Nun könnte man ja sagen: Wunderbar, das Alltags-Ich funktioniert wieder, die anderen Elemente sind „weggefischt“ worden, also kann das Leben so weitergehen; spontan kann man sich gar nicht mehr daran erinnern. Welcher Mensch denkt schon daran, wenn er einen „Krankenhauskoller“ bekommt – also im Krankenhaus sofort apathisch wird, leise, willenlos und dazu neigt, völlig aufzugeben –, dass es mit seinen Isolations- und Verlassenheitserfahrungen als Säugling oder Kleinkind zu tun haben könnte? Welche Frau, die panisch hinter ihrem mit ihr streitenden Ehemann herrennt und wie ein kleines Kind wimmert: „Sei doch wieder gut!“, erinnert sich schon bewusst daran, wie oft sie als Kind Zeugin der so grausam streitenden Eltern war, wie oft sie damals dachte, die Mutter täte sich etwas an? Leider aber neigen die unbewältigten, unintegrierten, un-verstand-enen Elemente des Erlebens dazu, am Verstand vorbei getriggert (ausgelöst) zu werden, und bringen das Alltags-Ich oft in die Bredouille, und nicht selten, ohne dass es wüsste, weshalb.
Beispiel: Martha
Eine Frau, ich nenne sie hier Martha, die mich über das Internet um Rat fragte, schilderte mir eine akute Notsituation: „Ich lag allein in der Sauna, als ein fremder Saunagast hereinkam (groß, sehr kräftig und kahlköpfig), und kaum hatte ich ihn gesehen, kroch langsam die Angst in mir hoch. Ich habe mich nicht getraut die Augen aufzumachen oder die Sauna zu verlassen, so eine Panik hatte ich! Ich muss dazusagen, dass ich früher mal ein Geschäft hatte und dort bin ich unter anderem von zwei Männern über längere Zeit mit einer Pistole bedroht worden. Ich kann Ihnen sagen, das war ein Albtraum! Ja, und dieser Fremde ähnelte einem von diesen beiden, und dann setzte er sich in der Sauna auch noch direkt neben mich, obwohl überall Platz war, und machte dauernd Geräusche. Vor lauter Angst habe ich mich kaum noch getraut zu atmen. Ich bin immer noch sehr aufgewühlt, mein Herz überschlägt sich fast, aber es tut gut, dass ich Ihnen das schreiben kann!“
In den nächsten Tagen schrieb Martha mir noch öfter: Plötzlich fielen ihr noch eine ganze Reihe von schlimmen und bedrohlichen Situationen mit Männern ein und auch, wie gewalttätig und grausam ihre Mutter sie als Kind behandelt hatte: „Ich kann bis heute nichts Nettes an mir finden; vielleicht weil meine Mutter mich immer so hasserfüllt angesehen hat, wenn sie mich schlug.“ Da Martha auf einen Therapieplatz bei einer Kollegin wartete, habe ich sie auf die Therapie vertröstet, mit ihr aber auf ihre Fragen hin einige beruhigende und erklärende E-Mails ausgetauscht, die ihr offensichtlich halfen, das Geschehen und die „Überschwemmungssituation“ ihres Bewusstseins mit bedrohlichen Erlebnisqualitäten von früher etwas besser einzuordnen.
Eine meiner ersten E-Mails enthielt einen dringenden Rat, nicht mehr allein in einen leeren Sauna-Schwitzraum zu gehen, zumal wenn dieser nicht von außen einsehbar sei. Martha antwortete: „Ja, das passiert mir auch nicht mehr, dass ich allein in eine Sauna gehe! Dabei habe ich die Ereignisse von früher so gut verdrängen können, ich verstehe überhaupt nicht, warum sie jetzt anfangen an die Oberfläche zu kommen. Das macht mich ganz kirre!“
Daraufhin habe ich versucht sie zu ermutigen, dem Prozess ihrer inneren Verarbeitung zu vertrauen: „Wundern Sie sich nicht, wenn es ein paar Tage braucht, bis sich Ihr Unbewusstes wieder beruhigt hat. Sprechen Sie freundlich mit sich – so freundlich wie Sie das gerade können. Stellen Sie sich
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