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Der Feind im Innern: Psychotherapie mit Täterintrojekten. Wie finden wir den Weg aus Ohnmacht und Gewalt? (German Edition)

Der Feind im Innern: Psychotherapie mit Täterintrojekten. Wie finden wir den Weg aus Ohnmacht und Gewalt? (German Edition)

Titel: Der Feind im Innern: Psychotherapie mit Täterintrojekten. Wie finden wir den Weg aus Ohnmacht und Gewalt? (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michaela Huber
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einer Tante unter, Großmutter hatte woanders zu tun, war aber für ihre Tochter da. Eigentlich wollte sie die für sich allein haben, doch da gab es noch diese gesunde, aber dicke und sterbensunglückliche Enkelin in dem Heim. Und tatsächlich war es meine Großmutter, die sich erweichen ließ: „Ich kann das nicht mehr mit ansehen“, soll sie gesagt haben und sorgte dafür, dass meine Mutter und ich eine Wohnung bekamen. Das war damals, Anfang der 1960er-Jahre, teuer: Man musste nicht nur eine Kaution, sondern auch „Abstand“ zahlen, also den Vormietern eine größere Summe geben. Der Deal meiner Großmutter mit meiner Mutter hieß: „Du kriegst eine eigene Wohnung und das Kind kommt zu dir aus dem Heim. Du wirst arbeiten gehen, das andere, behinderte Kind bleibt in seinem Heim. Ich zahle das erst mal. Dafür komme ich, wenn ich in meiner Firma in Rente gehe (dort hatte sie eine Wohnung) zu euch.“ Und so geschah es.
    Großmutter versorgte uns, sie nähte, kaufte ein und kochte hervorragend. Wie sollte ich mit dieser innerlich und äußerlich kaum anwesenden Mutter allein überleben? Sie war zwar lieb, aber sie hatte mich ja schon als kleines Kind für drei Jahre ins Heim gegeben. Und ich war so froh, jetzt ein Zuhause zu haben. Andererseits: Je älter ich wurde, desto öfter stand ich sonntags nachmittags am Fenster, hielt die beiseitegeschobene Gardine umklammert, starrte auf die Straße und dachte nur eins: „Ich will hier raus!“
    Ja, meine Großmutter war eine Despotin. Und doch war sie stark, sie war fleißig und auf ihre Weise klug. Sie wusste, wie man überlebt, und hatte eine eiserne Entschlossenheit dazu. Sie wurde 96 Jahre alt und meine Mutter pflegte sie bis zu ihrem Tod. Lebenslang verstand sie nicht, warum ihre eigene Tochter so schwach war, und sagte oft zu mir: „Du bist wie ich, du bist stark.“ Das verband uns. Und noch mehr: Großmutter war treu, sie ließ niemanden in der Familie und in ihrem kleinen Freundeskreis im Stich. „Ommi“ konnte das Geld zusammenhalten. Sie konnte im Rahmen einer kleinen Wohnung ihre Welt zusammenhalten. Doch ich wollte nicht so werden wie sie: so hart, grob, gemein und demütigend. Sie hat verhindert, dass meine Mutter jemals wieder eine Beziehung einging.
    Meine Mutter hatte nicht nur keinen Partner, sie hatte auch keine Freundin. Sie war, wie ich heute weiß, hoch dissoziativ. In ihrem Alltags-Ich daheim war sie freundlich, äußerst ängstlich und angepasst. Im Büro – das entdeckte ich überrascht erst, als ich mit 14 ein Praktikum in ihrem Betrieb machte – war sie die elegante und kompetente „Grande Dame“, eine Mischung aus Gracia Patricia und tüchtiger Managerin. Sie wurde dort geachtet und bewundert. Da begriff ich etwas mehr, was ich sonst nur spürte: Sie musste, wenn sie heimkam, in eine Art Nebel eintauchen und darin verschwinden, als wäre ein großer Teil von ihr gar nicht da. Nur manchmal, wenn „Ommi“ außer Haus war, zeigt sie noch ein anderes Gesicht: Das einer vielleicht Zwölfjährigen, die mit mir Jazzplatten auflegte, lauthals mitsang und gemeinsam mit mir den Rhythmus auf Töpfe, Tische, Schränke klopfte. Die mit mir von der Straßenbahn bis nach Hause Tango tanzte. Dann alberten wir herum und lachten, und in diesen Momenten waren wir beide einmal glücklich. Doch so schnell, wie dieser Anteil gekommen war, war er auch wieder verschwunden und mit den Jahren kam er immer seltener zum Vorschein.
    Wenn ich in Not war, hatte meine Mutter drei Reaktionen zur Verfügung, drei Zustände. Einen hilflosen: „Kind, da kann ich dir auch nicht helfen“, einen kalten: „Selbst schuld“ oder einen katastrophisierenden: „Wie schrecklich! Das wird bestimmt noch viel schlimmer!“, woraufhin ich sie beruhigen musste. Was dazu führte, dass ich immer mehr mit mir allein ausmachte. Zornig war sie selten. Doch wenn, waren es Zustände von grauenhaften Eruptionen. Dann schrie und verfluchte sie ihre Mutter, die zurückschrie. Dann flogen vulgäre, ordinäre Gemeinheiten hin und her. Und, wenn es mich traf, musste ich auch furchtbarste Worte erdulden, die alle Bindung und Beziehung zu vernichten suchten. „Womit habe ich so ein Kind verdient!“ – „Du kommst wieder ins Heim!“
    Dann hasste sie, hasste inbrünstig und hemmungslos. Dann weinte sie untröstlich. Dann schwieg sie, lange. Dann war sie wieder die liebe, müde und erschöpfte Mutter und Prokuristin, die jeden Morgen froh war, ins Büro zu gehen. „Zu Hause stehe ich ja

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