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Der Feind im Innern: Psychotherapie mit Täterintrojekten. Wie finden wir den Weg aus Ohnmacht und Gewalt? (German Edition)

Der Feind im Innern: Psychotherapie mit Täterintrojekten. Wie finden wir den Weg aus Ohnmacht und Gewalt? (German Edition)

Titel: Der Feind im Innern: Psychotherapie mit Täterintrojekten. Wie finden wir den Weg aus Ohnmacht und Gewalt? (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michaela Huber
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dann plötzlich für immer verschwunden. Wie manche Hefte und Unterlagen der Enkelin und zahlreiche Dokumente der Tochter („Brauchst du nicht mehr – hab ich weggeschmissen.“) Die Schreie meiner Mutter: „Mutter! Wo ist ...?“, das Leugnen meiner Großmutter: „Weiß ich auch nicht!“, ihr tonloses Pfeifen beim Hin- und Hergehen, bis hin zu dem mit dünnlippigem Lächeln und lakonischem Unterton vorgetragenen „Ja, hab ich weggeschmissen“ konnten tagelang die Luft in der 80 Quadratmeter kleinen Wohnung in eine Gewitterwolke verwandeln. Nein, meine Großmutter war nicht dement. Sie duldete nur lebenslang keine individuelle Regung bei den Menschen in ihrer Umgebung, die nicht von ihr genehmigt war. „Mach voran“, „Tu das da weg“, „Lass das ...“ – Was sie forderte, musste getan werden. Sie hat einige Holzbügel und Kochlöffel auf meinem Rücken zertrümmert.
    Wenn meine Mutter erzählte, dann waren es oft Geschichten von Bedrohungen und Ängsten: Kriegsgeschichten und Geschichten aus „der Firma“, in der sie arbeitete: „Die Bilanz stimmt schon wieder nicht um 25 Pfennig. Hoffentlich finde ich den Fehler“ – so etwas konnte sie tagelang in dumpfe Verzweiflung treiben. Meine Mutter hatte mir gegenüber nur eine Erziehungsmaßnahme: Schweigen. Sie würdigte mich, wenn ich „frech“ geworden war, keines Blickes und keines Wortes. Viele Stunden lang. Tagelang. Wochenlang. Einmal habe ich als junges Mädchen drei Wochen durchgehalten, dann fiel ich vor ihr auf die Knie, weil ich es nicht mehr aushielt: „Sei doch wieder gut!“ So wie sie vor ihrer Mutter auf die Knie fiel, wenn „Ommi“ meinte, die Tochter habe ihr irgendwie unrecht getan. Man musste sich hinknien, sich demütigen, und wurde vielleicht – vielleicht! Es konnte sein, dass es noch eine ganze Weile dauerte, dass man sich Gemeinheiten anhören oder sich selbst demütigen musste – erhört und wieder freundlicher behandelt.
    Und wie bei Eltern, bei denen der Vater ein Despot ist, fragte sich das Kind oft: Warum geht sie, die Mutter, nicht weg? Andererseits: Meine Großmutter trug zum Familieneinkommen bei, wir waren arm und mussten, wie man sagte, „jeden Pfennig umdrehen“. Ich wurde als Kind häufig in der Schule verspottet, weil ich Kleidung auftragen musste, die übrig geblieben war aus der Schneiderei meiner Großmutter. Es waren durchweg „Omma-Sachen“. Meine Rebellion bestand jahrelang darin, heimlich Zucker auf eine Untertasse zu häufeln und ihn mit der Zunge aufzulecken. Ich war pummelig, trug eine Hornbrille und als Frisur eine „Außenrolle“. Heute schaue ich mir die wenigen Fotos von damals an und sehe ein todunglückliches Mädchen, das ich sehr lange Zeit nicht ausstehen konnte. Inzwischen möchte ich mich neben sie setzen und ihre Verzweiflung mit aushalten, wie ich es schon oft getan habe, und ihr nach langer Zeit des Zuhörens ganz vorsichtig den Arm um die Schulter legen. Damals wurde ich zum Essen aufgefordert: „Schmeckt‘s dir nicht?“, aber auch zu Hause als „zu dick“ bezeichnet und leise verachtet. Einmal stand meine Mutter mitleidig blickend in der Badezimmertür, als ich mich wusch, und sagte: „Schön biste nich, Kind, aber klug.“ Dabei hatte meine Mutter mich gern, sie wollte durchaus etwas Nettes sagen. Dass dieser Satz dazu beitrug, dass ich mich fast mein ganzes Leben lang hässlich fühlte, konnte sie vielleicht nicht wissen – so gedemütigt, wie sie selbst immer war. Sie war eine bildschöne junge Frau gewesen und sie hatte sich nur einmal ernsthaft verliebt – prompt in einen haltlosen „Filou“, der auch ihr Geld nahm und verspielte. Vielleicht hätte sie ihn nie verlassen, wenn ihre Mutter sie nicht vor die Wahl gestellt hätte: „Wenn du nicht von dem weggehst, wirst du in der Gosse landen – und dann brauchst du nie wieder angekrochen zu kommen.“ Und meine Mutter wusste genau, dass meine Großmutter diese Drohung ernst meinte – sie hätte sich auch ihre Finger abgeschnitten, wenn sie einmal dazu fest entschlossen war. Also unterwarf sich meine Mutter und „kam angekrochen“, was damals bedeutete: Ihre Kinder kamen ins Heim, genauer: in zwei verschiedene. Mein schwer geistig und körperlich behinderter jüngerer Bruder starb später in seinem; ich wurde in meinem „Kloster“-Heim körperlich und seelisch misshandelt, was damals völlig normal war („Stell dich nicht so an, das sind heilige Frauen, die werden schon ihre Gründe haben“). Mutter kam bei

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