Der Feind im Innern: Psychotherapie mit Täterintrojekten. Wie finden wir den Weg aus Ohnmacht und Gewalt? (German Edition)
Funktionieren einschränken oder ganz behindern: Indem sie im Schlaf oder Wachen immer wieder „dazwischenfunken“ und man im Alltag merkt, dass man unter ständiger Müdigkeit, Nervosität, Unruhe eine latente Bereitschaft zum „Ausrasten“ entwickelt hat, die kein großes Selbstwertgefühl aufkommen lässt, sondern einen eher klein hält; man traut sich dann nichts zu, wagt keine großen Sprünge, kann sich auf sich selbst nicht verlassen und hadert ständig mit sich, was manchmal bis zum Selbsthass reicht und zu der Lust, sich zu verstümmeln oder sich mit einem Knall aus dem Leben zu reißen ...
Die Art der prägenden Erfahrungen bestimmt, wie dauerhaft sie einen beeinträchtigt: Frühe Vernachlässigung, Verluste und Gewalt durch nahe Bindungspersonen, natürlich in erster Linie durch die Eltern, das alles ist die schlimmste Hypothek beim Heranwachsen. Doch für alle Arten von seelischen Erschütterungen scheint zu gelten: Gelingt es, sie aus der Abgespaltenheit herauszuholen, sie sich bewusst anzuschauen, den Schmerz und die Erkenntnis zuzulassen, dann kann man sie neu einsortieren und nicht selten sogar so etwas wie Sinn oder das Gute am Schlechten erkennen. Am besten ist es, wenn man dann über kurz oder lang das Gefühl hat, dass alles „doch gut“ geworden, es zu einer Art „Happy End“ gekommen ist. Nobelpreisträger Kahnemann hat es im Spiegel -Gespräch aufgrund eigener Studien so ausgedrückt: „Jedes Erlebnis bekommt im Gedächtnis eine Bewertung angeheftet: gut, schlimm, noch schlimmer. Und die ist unabhängig von der Dauer. Nur zwei Dinge sind entscheidend: Was waren die Höhepunkte, also die schlimmsten oder, je nachdem, die großartigsten Momente? Und wie ging es aus, wie war das Ende?“ (ebd. S. 111).
Für traumatisierte Menschen bedeute dies ebenfalls, so Kahnemann, dass man sich darum bemühen müsse, ihnen das Speichern des Erlebten so günstig wie möglich zu machen, und sei es im Nachhinein, denn: „Was Sie am Ende bewerten oder auch was Sie in Zukunft fürchten werden – das ist eben dieser besonders intensive Moment und nicht die ganze Episode. Ähnlich ist das übrigens bei Tieren. [Auch die] wissen sehr genau: Die eine Erfahrung möchte ich noch einmal machen, die andere auf keinen Fall. Die Grundregel, dass nur die Höhepunkte und das Ende einer Episode zählen, ist evolutionär begründet. Denn wichtig fürs Überleben ist nur: Ging es gut aus? Und was konnte schlimmstenfalls geschehen? Das gilt für Tier und Mensch“ (ebd. S. 112).
Einen „guten Ausgang“ der Schreckensgeschichte bewerkstelligen
Das klingt so einfach und ist doch so schwierig. Wie können wir Kindern, Jugendlichen oder Erwachsenen, die sich an die erlebten Schrecken bewusst gar nicht mehr erinnern, sondern sie lediglich als Wiedererleben oder gegen sich oder andere gerichtete Impulse ausagieren – wie können wir ihnen dabei helfen, so etwas wie einen „guten Ausgang“ der Schreckensgeschichte zu erleben? Es geht ja nicht darum, sich einfach nur etwas auszudenken, nach dem Motto: Die Sache war gar nicht so schlimm, sondern sie ging gut aus. So funktioniert das nicht. Sondern wir müssen offenbar die Erfahrung aus dem Unbewussten ins Bewusstsein befördern, wo sie angeschaut und neu bewertet werden kann.
Interessant ist: Sind die Abspaltungsprozesse erst einmal gefestigt, dann gelingt die Integration in der Regel nicht allein. Sondern man braucht jemand anderen dazu. Jemand Freundliches, Verlässliches muss einem helfen, damit sowohl das Alltags-Ich mit seinem Bezug zur Gegenwart „präsent“ sein kann als auch Stück für Stück das abgespaltene, instinktiv Weggehaltene „herbei-“geholt werden kann. Gehirn, Körper und Beziehung – diese drei durchaus verschiedenen Systeme des Menschseins (so Daniel Siegel [2007] in seinem Buch „Das achtsame Gehirn“) müssen zusammenkommen, damit so etwas wie der „gute Ausgang“ der Geschichte hergestellt werden kann. Hat man diese sichere Beziehung (eine sehr verlässliche Partnerschaft oder: eine verlässliche professionelle Beziehung wie die zu einer BeraterIn oder PsychotherapeutIn) nicht, dann gibt es immer wieder diese On-Off-Phänomene: Man wechselt von einem Zustand in den anderen, die Verbindung kann nicht hergestellt werden, die Aufteilung ist stabil und hält. Man ist im Alltags-Ich – oder in einem der anderen merkwürdigen emotionalen oder körperlichen Zustände oder Anteile, die dann übernehmen, ohne dass das Alltags-Ich darüber die
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