Der Feind im Innern: Psychotherapie mit Täterintrojekten. Wie finden wir den Weg aus Ohnmacht und Gewalt? (German Edition)
verlässlich und durchschaubar und partnerschaftlich. Da galt es viel zu lernen, auch um die starken Gefühle, die unterschiedlichen Seinszustände und Introjekte zu verstehen, sie zu tolerieren und letztlich zu integrieren. Und ich glaube: Meine Geschichte ist eine der unzähligen Geschichten meiner Generation. Sie ist in mancher Hinsicht besonders, aber vermutlich werden die LeserInnen aus ihrem eigenen Erleben und ihrer eigenen Familie vieles wiedererkennen.
Was lernen wir denn aus diesen Geschichten vom Überleben nach dem Krieg, von verschwundenen Vätern, zerbrochenen Müttern und eisenharten Großmüttern, vom Wiedererleben der Täter- und Opferstrukturen? Vielleicht dieses: Dass wir in uns selbst sortieren müssen: Starkes ja, Böses nein. Weiches ja, alles mit sich machen lassen – nein.
Es ist ein langer Weg, diese Überzeugungen immer wieder in sich selbst herzustellen, sich mit allen Impulsen und Wiederholungszwängen zu beschäftigen. Dem eigenen Wunsch, einen anderen zu dominieren, Eigenes anderen aufzuzwingen, nicht mehr nachzugeben. Andere Wege zu finden: verhandeln, ausbalancieren. Und lernen, dass Nachgeben nicht gleichbedeutend mit Gedemütigtwerden sein muss. Dass Nachgeben kein Zeichen von Schwäche sein muss. Dass weiches Wasser sogar einen Stein brechen kann.
Im hohen Alter wurde meine Großmutter weich. Wie ein gerupftes, winziges, flaumhaariges Vögelchen saß sie auf ihrem Kissenberg im Wohnzimmer. Da war es dann meine Mutter, die stark war, weil sie sie pflegte. Meine Mutter hat sich nie gerächt an ihrer schwach gewordenen eigenen Mutter. Sie hat sie fast immer liebevoll, freundlich und zugewandt behandelt. Und meine immer schwächer werdende Großmutter lernte auf ihre alten Tage noch Dankbarkeit und wurde sogar ihrerseits liebevoll und zärtlich: Sie gab und bekam gern ein Küsschen, sie mochte es, wenn ihre Hand gehalten wurde, sie hörte sogar besser zu. Nur als der Pfarrer bei einem ihrer letzten Geburtstage im Wohnzimmer stand und ihr mit dröhnender Stimme gratulierte, murmelte sie mir in ihrem Alters-Bariton ins Ohr: „Weißt du was? Der geht mir auf’n Sack.“
5. Was macht Gewalt mit dem Gehirn und der Psyche?
In westlichen Industrieländern steigen die Zahlen psychischer Störungen und Erkrankungen rasant an – so stark, dass die Krankenkassen regelrecht Alarm schlagen. 2012 veröffentlichte das Robert-Koch-Institut Ergebnisse, die eine von ihm beauftragte Gruppe von PsychologInnen der TU Dresden erarbeitet hatte. Die Ergebnisse sind mehr als erschreckend und sie bestätigen eine Tendenz, die sich schon länger abzeichnet: „Pro Jahr durchlebt ein Drittel der Bevölkerung ein psychisch bedingtes Leiden; in der Altersgruppe der 18- bis 35-Jährigen betrifft das sogar 45 %“, fast die Zeit (5. Juli 2012) zusammen. Das wiederum verschärft die Situation von Beratungsstellen sowie ambulanten und stationären psychotherapeutischen Einrichtungen. Denn einerseits werden Beratungsstellen immer mehr in ihren Möglichkeiten, längerfristige Hilfen anzubieten, beschnitten. Andererseits wird auch der Zugang zu ambulanter Psychotherapie erschwert. Traumatherapie wird überhaupt nicht als Therapiemethode von den Krankenkassen anerkannt, sondern lediglich Verhaltenstherapie, Psychoanalyse oder Tiefenpsychologie.
Wer Gewalterfahrungen verarbeiten muss, wäre aber am besten bei jemandem aufgehoben, der sich mit den Folgen von giftigem, weil traumatischem Stress auf den Organismus auskennt, wie wir sehen werden. Und diese KollegInnen werden von den Krankenkassen nicht gesondert aufgelistet, was für viele, vor allem für schwersttraumatisierte Menschen eine Odyssee durch das Gesundheitswesen bedeutet. Viele landen in Kliniken – die dann auch überfordert sind: „Auch die psychiatrischen und psychosomatischen Kliniken könnten derzeit fast alle anbauen. Die Zahl der Menschen, die dort wegen psychischer Störungen behandelt werden, hat laut dem Krankenhausreport der Barmer GEK in den vergangen 20 Jahren um 129 % zugenommen. 1990 waren es 3,7 von tausend Versicherten, 2010 bereits 8,5. Insgesamt ist die Behandlungsrate außerordentlich gering: Nicht mal ein Drittel der Betroffenen hat sich überhaupt versorgen lassen, stellen die Forscher der TU Dresden fest; und wenn, dann häufig erst Jahre nach dem Beginn ihrer Krankheit. Nur etwa 10 % bekommen früheren Studien zufolge die Therapie, die ihrer Diagnose angemessen wäre ... Verantwortlich dafür sei nicht zuletzt ein langjähriges
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