Der Feind im Spiegel
aufflog.
Auf dem Flughafen Amsterdam hatte er sich ein Mobiltelefon gekauft und mit seiner Kreditkarte bezahlt. Alles andere wäre zu auffällig gewesen, und die Karte sollte in Ordnung sein. Zwar würde die Transaktion registriert werden, aber die Rechner der NSA würden entsprechende Nachfragen blockieren, falls irgendeine Behörde auf die Idee käme, die Kartennummer unter die Lupe zu nehmen. Die Abfertigungshalle war heiß und drückend und gerammelt voll. Lauter glückliche Menschen. In Europa war Urlaubszeit, und offensichtlich hatte sich die Hälfte der europäischen Bevölkerung aus diesem Grund in Bewegung gesetzt. Trotz der Übersichtskarte, die man ihm bei der Avis-Autovermietung mitgegeben hatte, dauerte es seine Zeit, bis er aus dem Flughafenbereich herausgefunden hatte, und auf dem ganzen Weg durch Deutschland bis hoch nach Dänemark herrschte dichter Verkehr. Er hatte nicht sehr viel geschlafen, aber er fühlte sich frisch und vor allem wachsam, obwohl ihn die ständigen Staus, bei denen er unerwartet auf die Bremse treten mußte, zermürbten und seine Aufmerksamkeit zu untergraben drohten.
Jetzt fuhr er durch die sanfte seeländische Landschaft, die grün und wohlgeordnet in der Sonne lag. Auf der Autobahn sah er Nummernschilder aus ganz Europa, und plötzlich fiel ihm auf, daß auch tschechische, polnische und ungarische darunter waren. Es war einiges geschehen, seit er das letztemal hier gewesen war. Er hielt an einem Rastplatz in Tuelsø, tankte, kaufte sich im Tankstellen-Shop einen Kopenhagener Straßenatlas und suchte die Hafenfront, an der das Hotel Marriott lag. Er holte sich einen Kaffee und aß ein Käsebrot dazu, dabei studierte er die Karten, Blatt für Blatt, Bezirk für Bezirk, und freute sich, daß die Straßen vor seinem inneren Auge auftauchten. Er schloß die Augen und lief im Kopf vom Hafen Richtung Zentrum und weiter nach Nørrebro, dann bog er nach Østerbro ab und kehrte in die Innenstadt zurück. Sich zurechtzufinden bereitete ihm keine Mühe. Er konnte sich noch immer in Kopenhagen bewegen, ohne wie ein dahergelaufener Tourist mit dem Stadtplan in der Hand herumzurennen.
Vuk fuhr auf der Autobahn in die Stadt und dann weiter an der Hafenfront entlang. Sie hatte sich vollkommen verändert. Jetzt standen gigantische Gebäude aus Glas und Beton am Hafen, und vor ihm tauchte der sogenannte Schwarze Diamant auf. Aus seinen Recherchen im Internet wußte er, daß es sich um einen neuen Bau der Königlichen Bibliothek handelte. In der internationalen Lobby des geschlechtslosen Hotels wurde er als der amerikanische Staatsbürger Ron Gibson registriert. Das Marriott war effektiv, modern und unsäglich amerikanisch. Es hätte überall auf der Welt stehen können. Und es würde funktionieren, denn Reisende wie ihn gab es wie Sand am Meer. Hinzu kamen vielleicht noch eine Handvoll Amis mit dicker Brieftasche, obwohl eigentlich sämtliche größere Häuser darüber weinten, daß sich die Amerikaner in diesem Jahr so rar machten.
Vuk gab den Schlüssel seines Mietwagens und den Vertrag am Empfang ab. Man werde die Rückgabe schon regeln. Man habe großes Verständnis, daß Mr. Gibson unter Jetlag leide und sich gerne ausruhen wolle. Sie zogen seine American-Express-Karte durch die Maschine, und er ging auf sein Zimmer. Es war groß und hell und mit praktischen, sauberen Möbeln eingerichtet, ein Nichtraucherzimmer, worum er gebeten hatte, mit herrlicher Aussicht auf den Hafen. Ein Boot von der Kanalrundfahrt tuckerte vorbei und hatte das Deck voller Touristen, die in der Sonne saßen und Sehenswürdigkeiten bestaunten. Er blickte über das Wasser und die Stadt, während er einen Whisky aus der Minibar trank, dann zog er die Gardinen zu, duschte, trank noch einen Whisky und schlief ein, beschützt von seiner Anonymität und dem Bitte-nicht-stören-Schild, das er an seine Tür gehängt hatte. Vielleicht lag es an der Müdigkeit oder am Alkohol oder an beidem, jedenfalls fiel er rasch in einen tiefen, traumlosen Schlaf.
Als er früh am Morgen erwachte, regnete es. Es war nur ein Schauer, aber es stürmte, und als er das Hotel nach einem ausgiebigen Frühstück verließ, war es recht kalt geworden. Er hatte Jeans angezogen, dazu ein T-Shirt, eine Windjacke und helle Leinenschuhe. Die Brille mit dem Fensterglas hatte er aufbehalten. In der Tasche steckte seine Sonnenbrille. Über der Schulter baumelte eine dieser Leinentaschen, die sich die Leute auf dem ganzen Erdball umhängten. Und wie er
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