Der Feind im Spiegel
so durch die Stadt schlenderte, dachte er, daß der Zeitpunkt perfekter nicht sein konnte. Die Touristen schoben sich regelrecht durch die Straßen, und keiner beachtete ihn. Er war der Mann in der Menge.
Auf dem Rathausplatz stand ein Monstrum von einem Gebäude, in dem er sich eine Wochenkarte für die öffentlichen Verkehrsmittel kaufte. Er sprach englisch und bezahlte mit den dänischen Kronen, die er gleich als erstes in einer Bank eingetauscht hatte. Er ließ sich treiben. Zum einen, um sich die Stadt wieder einzuprägen, und zum anderen, um herauszufinden, ob ihn jemand beschattete. Falls ja, stellten sie sich ziemlich geschickt an, aber das glaubte er eigentlich nicht.
In einem Fachgeschäft für Jagd- und Angelutensilien kaufte er einen Dolch und steckte ihn in seine Umhängetasche. Der Verkäufer lobte das Messer über den grünen Klee, weil es so praktisch sei, man könne es zum Ausweiden von Fischen benutzen oder auch ganz friedlich im Haushalt. In einem Eisenwarenhandel im äußeren Nørrebro suchte er sich einen Schleifstein aus. Er sprach dänisch mit den Leuten im Laden und war fast kindisch stolz, daß sie nichts merkten. In einem Sportgeschäft kaufte er dann noch ein Schweizer Offiziersmesser mit den passenden Werkzeugen.
Es war ein seltsames Gefühl, durch das alte Viertel seiner Kindheit und Jugend zu wandern. Das innere Nørrebro war überhaupt nicht wiederzuerkennen. So viele von den alten Häusern waren abgerissen. An ihrer Stelle standen nun Reihen roter Betonkarrees, aber dafür gab es auch mehr Bäume. Auch die Bevölkerung hatte sich verändert. An manchen Ecken fühlte er sich nach Bosnien versetzt: Er hörte Serbokroatisch und Bosnisch, aber auch Türkisch, Arabisch und Urdu. Besonders die Düfte beschworen Erinnerungen herauf, schwere, aber nicht unangenehme Gerüche von Gewürzen und Feta und Obst und Hammelfleisch, die ihm aus den kleinen Geschäften entgegenschlugen. Frauen jedes Alters mit Kopftüchern waren zu sehen. Sie unterschieden sich deutlich von den jungen dänischen Mädchen. Die trugen im Augenblick Hosen mit niedrigem Bund und kurze Tops, so daß der Bauch entblößt war und das Piercing im Nabel in der Sonne glänzte. Die jungen Dänen hielten sich an der Hand oder spazierten eng umschlungen durch die Straßen. Die verschleierten Frauen gingen hinter oder in gebührendem Abstand zu ihren Männern. Es waren zwei Welten, und es hatte nicht den Anschein, als kommunizierten sie miteinander. Er bemerkte, daß die Männer in seinem Alter oft Hosen mit vielen Taschen trugen. Eine Art helle Militärhose, die über dem Knie einen Reißverschluß hatte, so daß man das untere Hosenbein abnehmen konnte. Morgen würde er sich so eine Hose kaufen.
Er nahm einen Bus zurück ins Zentrum. Er zeigte seine Wochenkarte vor und sprach wieder englisch. Er setzte sich ans Fenster, betrachtete die Werbeplakate und versuchte sie sich zu merken. Er stieg am Kongens Nytorv aus und ging die Strøget hinunter. Die Einkaufsstraße war voller Menschen aus aller Herren Länder. In einem größeren Geschäft kaufte er ein Startpaket für sein Handy mit dazugehöriger Nummer und einer Prepaidkarte mit 25 Minuten Gesprächsguthaben. Das war mehr als ausreichend. Er prägte sich die Nummer ein, ehe er das Telefon samt Ladegerät in die Tasche steckte und Verpackung, Bedienungsanleitung und Kunststoffhülle in drei verschiedene Mülleimer warf. Auf dem Rathausplatz ging er zu einem Würstchenwagen, an dem ein jüngeres Paar ein Hot dog verspeiste.
»Eine Gebratene mit Brot«, sagte er.
»Gerne.«
Der Würstchenmann war dick und hatte ein rotfleckiges Gesicht. An einer Hand fehlte ihm der Daumen. Er schwitzte.
»Senf und Ketchup?«
»Ja, bitte.«
Er bekam die Wurst mit zwei unappetitlich gefärbten Senf- und Ketchupklecksen auf grauem Pergamentpapier vorgelegt, aber sie schmeckte in ihrer ganzen Fettigkeit eigentlich nicht schlecht, und das Brot war genauso trocken, wie er es in Erinnerung hatte.
»Schönes Wetter, nicht?« sagte der Würstchenmann und wischte mit einem nassen Lappen über die Ablage, nachdem sich die beiden jungen Leute bedankt hatten und Hand in Hand in Richtung Tivoli gegangen waren.
»Herrlich. Jetzt ist der Sommer wohl endlich da?«
»Kann man nie sicher sein. Heute morgen hat’s noch gepladdert.«
»Ja, stimmt.«
»Und denk mal dran, wie’s vor ’n paar Tagen ausgesehen hat!«
»Was meinst du denn?«
»Ja, darf nicht wahr sein, Mann. Hast du vergessen, wie das
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