Der Feind im Spiegel
regelrecht angekettet. Unsichtbare, aber unzerstörbare Ketten banden ihn an die USA, wo Anna und die Kinder auf ihn warteten und darauf vertrauten, daß er sie nicht im Stich ließ.
Er erreichte den höchsten Punkt der Brücke, und alles sah aus wie auf einer Ansichtskarte: der blaue Himmel, das grüne Land, die blaue, blaue See, ein Containerschiff, das auf die Brücke zusteuerte und einen geraden, weißen Kielwasserstreifen ins Meer schnitt, und an der Küste Myriaden weißer und bunter Segel. Er hatte die Klimaanlage angestellt, das Außenthermometer zeigte 24 Grad. Als es wieder abwärts ging und er auf die Mautstelle zurollte, suchte er sich eine Spur aus, wo er an der Kasse bar bezahlen konnte. Er hatte sich vorher darüber informiert, daß Kreditkartenzahler registriert, das Nummernschild und womöglich auch der Fahrer gefilmt und die Daten eine Weile aufbewahrt wurden. Bei Barzahlung war das nicht der Fall. Er wußte, daß täglich Tausende von Autos die Brücke überquerten, das Wagnis war also nicht sehr groß, aber man überlebte nur, wenn man kein unnötiges Risiko einging.
Er war nachmittags von Kauai über Honolulu nach Seattle geflogen. Es war ihm mehr als schwergefallen, sich von Anna und den Kindern zu verabschieden. Es war seltsam, allein zu sein, aber am seltsamsten war es, als normaler Reisender durchzugehen. Seit er zuletzt auf einem amerikanischen Flughafen gewesen war, waren die Sicherheitskontrollen ungeheuer verschärft worden: Abtasten, Durchleuchten des Handgepäcks, lästig-penible Paßkontrolle. Reiseunannehmlichkeiten, wie sie die Amerikaner noch nie zuvor erlebt hatten. Er fühlte sein Herz schneller schlagen, als man den Paß und das Bild prüfte, man fragte ihn nach seinen Reiseplänen und bat ihn, die Schuhe auszuziehen, er spürte die Hände des Sicherheitsbeamten über seinen Körper gleiten, aber dann hörte er nur ein Dankeschön für das gezeigte Verständnis, und kurz darauf saß er im Flugzeug.
Mike war einen Tag vor ihm abgereist und wartete bereits in Kopenhagen. Sie hatten entschieden, daß ihr erster Kontakt nicht über eine Zeitungsannonce zustande kommen sollte, sondern über E-Mail von einem öffentlich zugänglichen Computer aus. Sie waren auch übereingekommen, daß Mike Fatimas und Mustafas Adressen ausfindig machen sollte. Es wäre zu riskant, wenn Vuk persönlich beim Einwohnermeldeamt vorstellig würde. Die CIA-Leute in Kopenhagen sollten im wesentlichen außen vor gehalten werden, das heißt, sie würden informiert werden, wer Vuk war und daß auf ihrem Territorium eine Operation stattfinden würde, diese aber geheim sei und die Staatssicherheit betreffe. Höchste Priorität. Wenn sie darum gebeten werde, solle die CIA die nötige Logistik bereitstellen. Ansonsten solle sie sich um ihre eigenen Angelegenheiten kümmern. Der Befehl des Obersten war eindeutig. Dieser Auftrag kam von allerhöchster Stelle, falls es also Schwierigkeiten geben sollte, konnte der Kopenhagener CIA-Chef damit rechnen, daß sein nächster Stuhl im unwichtigsten Büro stünde, das Langley überhaupt auftreiben konnte. Bei den Vorbereitungen mußte auch berücksichtigt werden, daß der dänische PND sicher darüber informiert war und im Auge behielt, wer in Dänemark zur Zeit für die CIA aktiv war. Man war zwar verbündet, aber alle Nachrichtendienste wollten gerne wissen, wie und wo selbst die freundlich gesinnten Dienste operierten. Das gehörte zum Spiel. Man durfte nicht riskieren, daß ein CIA-Agent auf Vuk traf und ausgerechnet dieser überwacht wurde. Was eigentlich nicht der Fall sein sollte, aber man mußte mit allem rechnen. Ein weiterer Aspekt hatte in ihren Überlegungen eine Rolle gespielt. Auch wenn das Risiko minimal war, sollte Vuk sich nur so kurz wie möglich in Dänemark aufhalten. Er sollte seine Aufgabe erfüllen und sich dann ebenso unbeachtet verkrümeln, wie er gekommen war. Dänemark und Europa waren kein sicherer Ort für einen der meistgesuchten Männer der letzten Jahre, auch wenn die Balkankriege nicht länger im Rampenlicht standen. Die Verbrecherkarteien haben ein gutes Gedächtnis, wie Phil nicht müde wurde zu wiederholen.
Mike war irgendwo im Hintergrund als Nothelfer, aber eigentlich war er allein, freelance, ein Agent mit begrenzter Laufzeit. Und der konnte geopfert werden, sobald er zu einer Belastung wurde, statt nützlich zu sein. Obwohl es nie direkt ausgesprochen wurde, wußte Vuk natürlich, daß sie ihn verleugnen würden, falls er
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