Der Feind in deiner Nähe
sprechen.«
»Wann immer dir danach zumute ist …«, sagte ich. Eigentlich wollte ich noch etwas hinzufügen, fand aber nicht die richtigen Worte.
Jeder Mensch hat seine eigene Geschichte, aber manchmal weiß man nicht so recht, wie diese Geschichte aussieht oder wie man selbst hineinpasst. Mal angenommen, deine eigenen Eltern halten dich für oberflächlich und verantwortungslos, deine Freunde finden dich gesellig und extrovertiert, und in der Arbeit betrachten sie dich als strahlenden Mittelpunkt des Ganzen.
Voilà, schon bist du in einem bestimmten Bild von dir gefangen, in deinen eigenen engen Grenzen, und das Schlimme daran ist, dass dir das selbst meist gar nicht bewusst wird. Und da wir uns alle selbst ein Rätsel sind und andere Leute brauchen, die uns definieren und Realität verleihen, fängst du mit der Zeit an, dich selbst auch so zu sehen. Das ist die Geschichte, in der du zu stecken glaubst. Eine Komödie. Eine Farce. Du verlierst die anderen Teile von dir. Hin und wieder aber ist es dir vergönnt, dich anders zu sehen, anders zu beschreiben. Du wirst zu einer völlig anderen Geschichte, tiefgründiger, fremdartiger und interessanter, mit neuen Bedeutungen.
Meg und ich verdienen unser Geld damit, dass wir Menschen aufrütteln, sie für eine Weile ein neues Muster finden lassen.
Aber dann gehen sie nach Hause, wir gehen nach Hause, und was hat sich wirklich verändert? Deine alte Welt schließt sich wieder um dich, dein altes Selbst kehrt zurück. Die Leute glauben, dass sie ihr Leben und sich selbst ändern können. Du baust ein Floß und überquerst einen See, du spielst ein Spiel, bei dem du lockerlassen und dich rückwärts in die Arme eines Kollegen fallen lassen musst, du sitzt mit anderen in einem großen Kreis und redest über all die Dinge in deinem Leben, die du falsch gemacht hast, die Entscheidungen, die du bereust. Und hinterher wirst du in der Lage sein, neu durchzustarten.
Wenn ich »du« sage, meine ich natürlich mich, Holly Krauss, der ich nicht entkommen kann, wie sehr ich mich auch anstrenge. An diesem Wochenende hatte ich mich so sehr bemüht, so sehr wie nie zuvor, die energiegeladenste Person in dieser ganzen Schar energiegeladener, überdrehter Menschen zu sein, und nun war mein Tank leer, mein Schrank geplündert.
Ich musste an Stuart denken, einen der Teilnehmer. Er war um die vierzig, vielleicht ein bisschen älter, ein schlaksiger Typ mit langem, ein wenig schmutzig wirkendem strohfarbenem Haar und einer etwas dekadenten Art. Ständig hatte er eine von seinen penetrant riechenden selbst gedrehten Zigaretten im Mundwinkel hängen und lief die ganze Zeit in derselben alten, abgewetzten Lederjacke herum. Er war der Zyniker der Gruppe, der während unserer Spiele immer leicht spöttisch grinste. Ich hatte ihn als meine persönliche Herausforderung betrachtet, die harte Nuss, die es zu knacken galt. Deswegen gesellte ich mich nach dem Abendessen zu ihm, und wir blieben auf, bis alle anderen längst im Bett waren und man nur noch das Rauschen des Windes und das Plätschern des Bachs draußen hörte.
Nachdem wir ziemlich viel Scotch aus der von Richard auf dem Tisch stehen gelassenen Flasche getrunken hatten, erzählte er mir von seinen beiden Söhnen.
»Sie sind fast schon junge Männer«, erklärte er. »Ich habe ihre Mutter verlassen, als sie drei und zwei Jahre alt waren. Ich hatte mich damals hoffnungslos in eine andere Frau verliebt, was aber auch nicht lange gut ging. Jedenfalls sind sie inzwischen Teenager. Mein Gott, Fergal ist fast neunzehn. Sie haben Freundinnen und nehmen Drogen, und ich bin für sie quasi unsichtbar. Sie sehen einfach durch mich hindurch. Was ich sage, scheint bei ihnen gar nicht anzukommen.«
»Das wird sich ändern, wenn sie älter sind«, erklärte ich.
»Vielleicht. Wahrscheinlich. Aber es ist ein ganz seltsames Gefühl. Als würde ich gar nicht existieren. Ich fühle mich wie ein Geist in meinem eigenen Leben.«
Er drehte sich eine neue Zigarette und schob sie sich in den Mundwinkel.
»Ich wette, Sie haben sich noch nie so gefühlt«, fuhr er fort, nachdem er sie sich angezündet und einen langen Zug genommen hatte. »Bestimmt hat Sie noch nie jemand so behandelt, als würden Sie nicht existieren. Wieso auch? Bei Ihnen käme kein Mensch auf die Idee. Und wenn doch, dann würden Sie es sich nicht gefallen lassen, stimmt’s?« Er stieß ein trockenes Lachen aus.
»Ich weiß nicht«, antwortete ich. »Ich wünschte, es würde mal jemand
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