Der Feind in deiner Nähe
lassen, und redete dabei ununterbrochen, damit er mir keine Fragen stellen konnte. Jedes Mal, wenn zwischen uns auch nur eine beängstigende Sekunde lang Schweigen herrschte, beeilte ich mich, die Pause zu füllen. Dann sahen wir uns die Nachrichten an und hinterher eine Quizsen-dung.
Ich rief immer laut die falschen Antworten. Nach einer Weile schaltete Charlie aus und sagte, er sei müde und gehe jetzt ins Bett.
»Ich komme auch gleich«, antwortete ich. »In einer Minute.«
Ich machte mir eine Tasse Tee, weil ich hoffte, dass ich dadurch ruhiger werden würde, aber er schmeckte eigenartig, wie schimmeliges Stroh. Ich schaltete den Fernseher wieder an und zappte durch die Kanäle, fand aber nichts, was meine Aufmerksamkeit fesselte. Es gelang mir nicht, mich länger als ein paar Minuten auf die Gesichter zu konzentrieren, die mir vom Bildschirm entgegengrinsten. Auch die Worte, die in meinen Ohren dröhnten, ergaben für mich keinerlei Sinn. Um halb zwei schleppte ich mich schließlich nach oben. Auf dem Weg ins Schlafzimmer stieß ich mir an der Tür eine Zehe an und schrie vor Schmerz laut auf.
Charlies rechtes Auge öffnete sich einen Spalt. »Holly?«, murmelte er.
Ich wartete, bis er wieder eingeschlafen war, dann schaltete ich meine Nachttischlampe an. Wenn ich nicht schlafen kann, lese ich gern Gedichte. Gedichte und Kochbücher. Ich koche zwar nie, aber eines Tages werde ich damit anfangen, und dann wird mein Kopf voller leckerer Rezepte stecken, beispielsweise für geräucherten Schellfisch und Muschelpastete.
Schlagartig wurde mir bewusst, dass ich Hunger hatte. Ich hievte mich wieder aus dem Bett und tappte zum Kühlschrank hinunter. Wir haben einen riesigen Kühlschrank – viel zu groß für zwei Personen –, aber es ist meist nichts drin außer Kaffee, Bier, Butter und kleinen Trinkjoghurts, die Charlie immer besorgt und die mich an Pudding mit Süßstoff erinnern. Heute stieß ich auf ein paar marinierte Sardellen, die wir meines Wissens noch nie gehabt hatten. Ich aß eine halbe, aber irgendwie war das nicht das Richtige für ein Nachtmenü. Zu salzig.
Vor meinem geistigen Auge sah ich hohe Wellen gegen verkrustete, mit Napfschnecken überzogene Felsen klatschen und Männer mit schwieligen Händen Netze voll zuckender silbriger Fische aus dem Wasser hieven.
Nachdem ich wieder im Bett lag, presste ich meinen kalten, verspannten Körper an Charlies warmen, schlafenden und versuchte zusammenzuzählen, wie viele Stunden ich letzte Woche geschlafen hatte, aber das Rechnen fiel mir unglaublich schwer, ich verzählte mich ständig. Schließlich gab ich auf, schlang die Arme um Charlie – meinen schönen, warmherzigen, verlässlichen, vertrauensvollen Ehemann – und presste meine Lippen an seinen Nacken.
»In Zukunft werde ich ganz lieb und brav sein«, flüsterte ich in seine straffe Haut hinein. »Ganz unglaublich lieb und brav. Du wirst mich nicht wiedererkennen. Ich werde eine völlig neue Frau sein.«
Langsam begann es zu dämmern. Plötzlich riss ich die Augen auf. Mir war gerade in den Sinn gekommen, dass ich vergessen hatte, Trish die ihr zugesagte Information aus dem Internet zu besorgen. Während der Nacht war mir schon eingefallen, dass ich versprochen hatte, der Obdachlosen, die immer draußen vor dem U-Bahn-Eingang saß, wenn ich zur Arbeit fuhr, eine Decke vorbeizubringen. Rasch schlüpfte ich in meine Sachen und stürmte die Treppe hinunter, immer gleich zwei Stufen auf einmal. Nachdem ich Wasser aufgesetzt hatte, warf ich meinen Computer an.
Um sieben weckte ich Charlie mit Kaffee und suchte dann im Schrank nach Müsli, obwohl ich das Zeug eigentlich nicht ausstehen kann. Ich finde, es schmeckt nach süßer, matschiger Pappe. Nachdem ich ein paar Minuten in den Flocken herumge-stochert hatte, kippte ich sie in den Müll. Charlie starrte schon eine ganze Weile auf seine Zeitung, hatte aber noch nicht ein einziges Mal umgeblättert. Rasiert war er auch noch nicht.
»Hast du gut geschlafen?«, fragte ich.
Er murmelte irgendetwas.
»Ich nicht. Hatte mal wieder eine schlaflose Nacht.«
Mein Blick blieb auf der Rückseite seiner Zeitung hängen.
»›Ängstliche Haartracht‹, zehn Buchstaben. Dreadlocks. Ja!
Das muss einem erst mal einfallen, oder? Und was ist mit
›Berühmtheit, die jede Nacht einen Auftritt hat‹? VIP. Nein.
Star. Star! Gut, weiter, dreizehn Buchstaben: ›Wachsamer Typ, der jeden Tag verschläft..‹«
Charlie faltete die Zeitung zusammen, sodass ich
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