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Der Feind in deiner Nähe

Titel: Der Feind in deiner Nähe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicci French
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dann, als könnte ich mir nicht vorstellen, was er brüllte, zeigte er mir auch noch den Mittelfinger. Die Frau neben ihm schrie ebenfalls irgendetwas. Einen Moment lang betrachtete ich ihr wutverzerrtes Gesicht, das aussah wie die Fratze eines dieser Wasserspeier.
    Dann tippte ich mit dem Zeigefinger an meine Stirn und formte mit den Lippen das Wort »VERRÜCKT«. Ihre Gesichter wurden noch wütender. In dem Moment schaltete die Ampel um, und ich gab Gas. Der Verkehr hatte sich inzwischen etwas beruhigt.
    Was dann passierte, ging so schnell, dass ich es gar nicht richtig mitbekam. Ehe ich mich versah, war der rote Escort an mir vorbeigeschossen und legte vor mir eine Vollbremsung hin, sodass ich gezwungen war anzuhalten. Der Mann stieg aus und stolzierte wie ein fetter, aufgeblasener Gockel auf mich zu. Ich öffnete die Tür und stieg ebenfalls aus.
    »Ja?«, fragte ich.
    »Du Miststück!«, schimpfte er. »Was, zum Teufel, soll das?«
    Er trat näher. Ich blickte auf meine linke Hand hinunter. Meine Nägel wurden allmählich ein bisschen lang, dachte ich, ich musste sie abends unbedingt schneiden. Meine Finger krümmten sich zur Faust. Ich sah meinen Ehering, meine Knöchel, und ich sah seinen schreienden Mund. Dorthin verpasste ich ihm einen Schlag, verstärkt durch die ganze Kraft meiner Schulter: genau auf seine Lippen, um ihm auf diese Weise die Worte zurück in den Hals zu stopfen.
    Er klappte einfach zusammen, ging auf dem Asphalt in die Knie.
    »Nachtwächter!«, sagte ich. »Das ist die Lösung für das Kreuzworträtsel. Genau!«
    Ich machte ein paar Schritte zurück. Hinter mir wurde es laut.
    Die Frau war ebenfalls ausgestiegen und rannte hysterisch schreiend auf ihn zu. Er hob den Kopf. Sein Gesicht wirkte jetzt völlig ausdruckslos, mal abgesehen von der Tatsache, dass sein Mund vor Überraschung offen stand. Ich bemerkte, dass er Blut an den Zähnen hatte. Während er sich langsam aufrichtete, stieg ich in aller Ruhe in meinen Wagen und fuhr davon. Ich kam nicht mal zu spät.

    Charlie und ich gingen mit Sam und Luke, Megs Cousin, ins Kino. Meg hatte ich auch gefragt, ob sie uns Gesellschaft leisten wolle. Sie hatte geantwortet, sie fühle sich schon viel besser und vielleicht werde sie tatsächlich mitkommen, aber dann sagte sie in letzter Minute ab, ohne den Grund zu nennen. Nach dem Film gingen wir noch zusammen zum Inder, wo ich allerdings nur so tat, als würde ich essen, indem ich die roten, öligen Fleischstü-
    cke auf dem Teller hin und her schob und aus dem Reis kleine Häufchen machte. Vermutlich hatte ich in letzter Zeit ziemlich abgenommen. Ich hatte mich an diesem Morgen auf die Waage gestellt, aber sie funktionierte nicht richtig, beim ersten Mal zeigte sie viel zu wenig, beim zweiten Mal viel zu viel an.
    Wahrscheinlich hatte ich irgendwas falsch gemacht. Oder vielleicht war ich im Begriff zu verschwinden und würde demnächst unsichtbar werden.
    Irgendwann beugte Charlie sich zu mir und nahm meine Hand.
    Ich zuckte zusammen und registrierte zum ersten Mal mit mäßigem Interesse, dass meine Knöchel ganz blau waren. Es dauerte einen Moment, bis mir der Mann wieder einfiel, den ich geschlagen hatte. Erst jetzt, nachdem mich die blauen Flecken an das Ganze erinnerten, begann mir die Hand wehzutun.
    »Ihr solltet mal den anderen Typen sehen«, sagte ich. Die Jungs mussten lachen, und ich lachte ebenfalls, sogar noch lauter als sie.
    Um halb elf waren wir wieder zu Hause. Sam und Luke kamen noch auf einen Kaffee mit herein. Kurz darauf klingelte es. Es war Naomi, die irgendetwas unter dem Arm hatte. »Vor zwei Stunden ist ein Päckchen für dich gekommen«, erklärte sie.
    »Per Kurier. Ich musste den Empfang mit meiner Unterschrift bestätigen. Erst wollte ich es euch einfach in den Briefkasten stecken, aber es war zu breit. Außerdem habe ich mir gedacht, es könnte etwas Dringendes sein.«
    »Danke.« Ich nahm ihr das Päckchen ab.
    »Geht es dir nicht gut, Holly? Du siehst heute ganz schön fertig aus.«
    »Ich fühle mich bloß ein bisschen abgespült. Abgekämpft meine ich natürlich. Komm doch rein. Vielleicht möchtest du auch einen Kaffee?«
    »Störe ich euch denn nicht?«
    »Je mehr wir sind, desto lustiger«, antwortete ich. Sie folgte mir ins Wohnzimmer und ließ sich zwischen Sam und Charlie nieder. Ich fand, dass sie an diesem Abend sehr hübsch aussah, rund und gesund wie eine wohl genährte, zufriedene Katze.
    »Mach doch mal dein Päckchen auf«, sagte Luke.
    Ich

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