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Der Feind in deiner Nähe

Titel: Der Feind in deiner Nähe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicci French
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ein fremder Mann mich eine ganze Nacht lang küsste und betatschte, dass er mich kratzte und fickte, mein Innerstes nach außen kehrte?
    »Keine Sorge«, antwortete Charlie. »Ich bin ein verheirateter Mann, oder hast du das vergessen?«
    »Nein, das habe ich nicht.« Ich streckte den Arm aus und zupfte mit meinen zitternden Fingern an seinem Hemd herum, obwohl es eigentlich gar nicht nötig war. »Ich wünsche dir einen schönen Tag.«

    Ich war zu nervös, um konzentriert zu arbeiten. Mittags verbrachte ich zwei Stunden damit, in einem Geschäft, das die Ausmaße einer Lagerhalle hatte, die Farben für unsere Wände auszusuchen. Was gar nicht so einfach war, weil mich die vielen klangvollen Namen irritierten: Gerberagelb, Flachssilber und Themsebraun. Eisgrau, Lakritze, Paprika. Am Ende erstand ich fünf Liter von einem satten Orangerot namens Fuchsbraun und fünf von einem senfigen Gelb, außerdem drei weiche schwarze Pinsel – dick, mittel und dünn –, sechs Blatt raues Schleifpapier und eine Flasche denaturierten Alkohol. Nachmittags hatten wir eine Besprechung und gleich im Anschluss unsere vierzehntägi-ge bürointerne Versammlung, in der wir über neue Ideen diskutierten. Doch meine Gedanken schweiften immer wieder ab. Ich stellte mir vor, wie ich mit einem Pinsel voller gelber Farbe vor einer glatt verputzten Wand stehen würde. Der erste Pinselstrich: ein leuchtender Streifen durch die Leere.
    Kurz nach sechs rief mich Stuart auf dem Handy an. Im Hintergrund hörte ich Stimmen. Verbrachte er eigentlich sein ganzes Leben in Bars? Ich hatte ihn seit jenem Abend nicht mehr gesehen, einem weiteren jener Abende, die ich zu vergessen suchte. Die Oryx-Galerie widersetzte sich hartnäckig meiner Bitte – besser gesagt, meinem Flehen –, die Skulptur zurückzu-nehmen. Inzwischen stand sie wie ein Mahnmal in unserem Schlafzimmer, wo sie außer uns niemand sehen musste. Charlie hatte sich an ihrem Sockel schon die Zehen angestoßen und ich mir an einer ihrer vielen rauen Kanten einen Rock zerrissen.
    Stuart hatte zwei Nachrichten hinterlassen – eine in nüchter-nem, eine in betrunkenem Zustand –, und obwohl ich mir fest vorgenommen hatte, ihn zurückzurufen, war ich irgendwie doch nicht dazugekommen. Er war einfach der Typ Mann, den man nicht zurückrief; einer, den man zwar recht sympathisch fand, der interessant war und gut aussah, aber trotzdem seltsam schemenhaft blieb. Er redete sehr viel, und ich konnte mich nie genau daran erinnern, was er eigentlich gesagt hatte. Er trank auch sehr viel, und dann flossen seine Worte zu einem Strom zusammen, der über mich hinwegrauschte.
    »Holly!«, sagte er gerade. »Hier ist Stuart. Der, den du einfach hast stehen lassen und nie zurückgerufen hast. Ich habe es aber nicht persönlich genommen.«
    Betrunken, dachte ich. »Hallo, Stuart.«
    »Was treibst du denn so?«
    »Du meinst, ganz allgemein?«
    »In den nächsten paar Stunden.«
    Ich öffnete den Mund, um zu sagen, dass ich schon was vorhätte, doch in Wirklichkeit fühlte ich mich nur müde. Charlie war an diesem Abend ohne mich unterwegs. Höchstwahrscheinlich mit einer anderen Frau. Ich hatte also keine Pläne. Und eigentlich war ich gar nicht so müde. Ganz im Gegenteil, ich war rastlos und voller Tatendrang. Eine Frau auf der Suche nach einem Abenteuer.
    »Warum fragst du?«
    »Ich fahre zu einem Pokerabend, den ein Freund von mir bei sich zu Hause veranstaltet. Wir sind bloß zu sechst oder so, und da dachte ich mir, dass es vielleicht ganz nett wäre, wenn du mitkommen würdest.«
    »Ich habe seit meiner Collegezeit nicht mehr Poker gespielt.
    Ich kann schwarzer Peter und Patiencen legen, aber das war’s dann auch schon.«
    »Ich glaub nicht, dass die anderen davon sehr begeistert wä-
    ren. Aber du musst ja nicht mitspielen. Kannst einfach zusehen, Whisky trinken und Rauchkringel in die Luft blasen.«
    »Das klingt nach einem total lustigen Abend«, entgegnete ich.
    »Ich kann mir wirklich nichts Schöneres vorstellen, als sechs Leuten einen ganzen Abend lang beim Kartenspielen zuzu-schauen.«
    »Dann kommst du also mit?«, fragte er in enthusiastischem Ton. »Großartig. Ich hole dich in einer Stunde vor deinem Büro ab.« Mit diesen Worten legte er auf.
    »Warum nicht?«, sagte ich laut.
    Ich bemerkte, dass Meg mich über den Schreibtisch hinweg ansah, und wandte rasch den Blick ab. Schließlich war sie nicht meine Mutter, außerdem würde ich bloß eine Weile bei einem Kartenspiel zusehen. Das

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