Der Feind in deiner Nähe
öffnete, stellte ich fest, dass Meg und Charlie links und rechts neben dem Bett saßen und auf mich heruntersahen.
»Was ist los? Bin ich krank? Oder liege ich vielleicht schon im Sterben? Vielleicht bin ich ja schon tot, und das hier ist meine Leiche, und bald wird einer von euch beiden laut seufzen und sagen: ›Na ja, es ist wahrscheinlich besser so.‹«
»Wovon redest du?«, fragte Meg.
»Meg und ich machen uns Sorgen um dich«, erklärte Charlie.
»Ich kann mir gar nicht vorstellen, warum.«
»Möchtest du jetzt aufstehen?«
»Nicht, solange ihr beide hier sitzt und mich anseht, als hätte ich eine tödliche Krankheit, die mich jeden Moment hinwegraf-fen könnte. Aber ich stehe bald auf.«
»Ich mach uns schon mal Tee«, sagte Charlie in beruhigendem Ton und lächelte mich dabei mitfühlend an.
Am liebsten hätte ich ihm dieses Lächeln mit der Faust aus dem Gesicht geschlagen, aber gleichzeitig war mir auf eine vage Weise bewusst, dass er ungemein lieb und geduldig auf mein unerträgliches Verhalten reagierte. Tief in mir flüsterte eine leise Stimme, dass ich irgendwann wieder anfangen musste, mich wie ein normales menschliches Wesen zu benehmen.
»Ich zähle bis zehn, dann stehe ich auf«, erklärte ich. »Eins, zwei, drei …«
Meg ging, als ich bei neun angekommen war. Ich blieb noch eine Weile liegen, bevor ich die Zähne zusammenbiss, meine ganzen Kräfte mobilisierte und mich ankleidete. Dann öffnete ich die Vorhänge des kleineren Fensters, das auf die Straße hinausging: Die Gehsteige waren nass, der Himmel bewölkt.
Anschließend zog ich die Vorhänge des größeren Fensters auf und presste meine Stirn an das kühle Glas. Charlie war draußen im Garten. Meg trat gerade aus dem Haus und ging zu ihm. Als sie ihn an der Schulter berührte, drehte er sich zu ihr um. Sie standen ganz nah beieinander und unterhielten sich eine Weile.
Dann nahm Charlie Megs Hand und drückte sie an seine Wange.
Meg lächelte ihn an. Zusammen kehrten sie ins Haus zurück.
Ich schleppte mich die Treppe hinunter, als hätte ich Bleige-wichte an den Füßen. Wenigstens konnten sie mich auf diese Weise kommen hören.
Charlie machte eine frische Kanne Tee, stellte eine dampfende Tasse vor mich hin und forderte mich zum Trinken auf.
Meg toastete eine Scheibe Brot für mich und bestrich sie mit Honig. Dann erschien Naomi mit einer Dose.
»Charlie hat gesagt, du fühlst dich nicht so gut«, erklärte sie.
»Ich habe Ingwerkekse gebacken. Ingwer ist sehr gut, wenn man sich krank fühlt. Hallo, Meg.«
»Hallo, Naomi.«
»Ich fühle mich aber nicht krank«, antwortete ich trotzig.
»Ach so, na ja, sie sind trotzdem gut. Hier, probier mal eines.«
Sie lächelte mich an, sodass ich ihre gleichmäßigen weißen Zähne mit der Lücke vorne sehen konnte. Sie trug weder eine Jacke noch einen Pullover, nur ein hellgelbes T-Shirt. Sie wirkte so frisch und sauber wie ein Frühlingstag.
»Holly hat in letzter Zeit zu viel gearbeitet«, erklärte Meg.
»Und nicht genug geschlafen«, fügte Charlie hinzu.
»Du Arme«, meinte Naomi. »Kein Wunder, dass du dich schlecht fühlst. Wenn meine Patienten unter Schlaflosigkeit leiden, gebe ich ihnen immer einen bestimmten Tee. Es ist eine Mischung aus chinesischen Kräutern, die ein bisschen aussieht wie grauer Staub, aber sie wirkt beruhigend und scheint den Leuten zu helfen. Möchtest du was davon?«
»Nein.«
»Doch«, sagte Charlie. »Doch, sie möchte etwas davon.«
»Ich kann Kräutertee nicht ausstehen.« Mit einem finsteren Blick auf die drei, die mit besorgter Miene um mich herumstanden, fügte ich hinzu: »Und Mitgefühl auch nicht.«
In dem Moment klingelte es an der Tür, und Charlie ging hinaus, um aufzumachen. Ich hörte Stimmengemurmel, dann rief Charlie nach mir. Als ich neben ihn trat, waren draußen gerade zwei Männer damit beschäftigt, etwas aus einem Liefer-wagen zu laden. Es war ein großer, in eine grüne Plane gehüllter Gegenstand.
»Was ist das?«, fragte ich.
Ein dritter Mann reichte mir ein Klemmbrett. »Holly Krauss?«, fragte er.
»Ja, das bin ich.«
»Bitte unterschreiben Sie hier.«
Ich starrte auf die Rechnung. Ganz oben stand ORYX GAL-LERY, und neben dem Namen war ein Tier mit Hörnern abgebildet, das wahrscheinlich einen Oryx darstellen sollte.
»Oh«, sagte ich, als mir die schreckliche Wahrheit dämmerte.
»Können Sie es bitte wieder mitnehmen? Ich will es doch nicht haben.«
Der Mann schüttelte den Kopf. »Wir müssen
Weitere Kostenlose Bücher