Der Feind in deiner Nähe
hassten, ein paar aus gutem Grund, andere ohne guten Grund, wieder andere ganz ohne Grund. Sie waren überall. Ich zog mir die Decke über den Kopf und rollte mich zusammen. Die Knie gegen meine tränennassen Augen gepresst, schlief ich ein.
20
Der frühe Nachmittag ging in den späten über, und langsam wurde es Abend. Der Himmel vor dem Fenster färbte sich dunkel. Die grünen Zahlen der Uhr zeigten fünf, dann sechs, dann halb sieben … Charlie kam nicht nach Hause. Wo befand er sich? Früher war er immer zu Hause gewesen und hatte auf mich gewartet.
Schließlich zwang ich mich aufzustehen. In meinen Bademantel gewickelt, ging ich hinunter und rief Charlie auf dem Handy an.
»Ja?«
»Charlie, kommst du bald nach Hause? Ich fühle mich ein bisschen komisch.«
»Soll ich gleich kommen?«
»Wo bist du?«
»Bei Freunden.«
Ich lauschte, ob im Hintergrund irgendwelche Geräusche zu hören waren. »Ist schon gut«, sagte ich schließlich. »Ich bin wahrscheinlich bloß hysterisch. Du brauchst dich nicht zu beeilen. Ich komm schon klar.«
»Ich bleib nicht mehr lange«, versprach er. »Höchstens noch bis acht oder so. In Ordnung?«
»Ja«, antwortete ich. »Kein Problem.«
Ich rief Meg an.
»Hallo, ich bin’s«, sagte ich, als sie ranging.
»Holly.« Sie klang atemlos. »Geht es dir besser?«
»Das wegen heute tut mir Leid.«
»Lass dir deswegen keine grauen Haare wachsen. Aber hör zu, kann ich dich später zurückrufen? Es passt gerade nicht so gut
…«
Ich hörte einen Mann ihren Namen rufen.
»Wer ist bei dir?«, fragte ich. »Meg, wer ist bei dir?«
»Lass uns morgen reden. Nicht jetzt, am Telefon. Ruh dich aus, und lass es dir gut gehen.«
»Meg«, sagte ich, aber sie hatte schon aufgelegt. Das Einzige, was ich noch hören konnte, während ich den Hörer ans Ohr presste, war mein eigener, keuchender Atem.
Ich schleppte mich wieder nach oben ins Bett, den Blick auf die tickende Uhr gerichtet.
Als ich unten jemanden klingeln und dann so fest gegen die Tür hämmern hörte, dass es klang, als würde er sie gleich einschla-gen, glaubte ich erst, es wäre Teil eines Traums, in dem mir jemand an den Kragen wollte. Aber als ich mich dann im Bett aufsetzte, war das Geräusch noch immer da, und wenige Augenblicke später hörte ich Glas splittern. Ich unternahm gar nichts, sondern legte mich wieder hin. Mich überkam eine schreckliche Müdigkeit, als läge ich unter einer dicken Decke und hätte nicht die Kraft, sie abzuwerfen. Ich wusste, dass etwas Schlimmes passieren würde, brachte aber nicht die Energie auf, mich davor zu fürchten. Meine Beine waren schwer wie Baumstämme. Ich lag reglos da, mein Kissen an die Brust gepresst. Ich hörte jemanden eine Tür zuschlagen und einen Stuhl über den Küchenboden schleifen.
Dann vernahm ich Schritte, und plötzlich war die Angst doch da. Heiß durchflutete sie meinen ganzen Körper, raubte mir den Atem, verursachte mir eine Gänsehaut.
Die Schritte erreichten die Diele. Einen Moment war es still, dann hörte ich die Treppe knarren.
»Steh auf, Holly«, sagte ich mir. »Steh endlich auf!«
Als ich aus dem Bett sprang, wäre ich beinahe gestürzt. Ein kleiner Teil von mir registrierte das Pochen meiner Wange und das Dröhnen in meinem Kopf, die raue Oberfläche der Bodendielen unter meinen Füßen, die schimmernde Schwärze des klaren Nachthimmels, die Geräusche der Welt draußen.
Telefon, dachte ich. Das war es – die Polizei anrufen. Ich kauerte mich auf den Boden, riss das Telefon vom Nachttisch und versuchte die 999 zu wählen, aber im Raum war es dunkel, und meine Finger waren dick wie Würstchen, sodass ich mich verwählte. Kein Anschluss unter dieser Nummer. Die Schritte waren inzwischen vor der Schlafzimmertür angekommen. Die Tür wurde aufgestoßen und knallte gegen die Wand. Von dort, wo ich am Boden kauerte, sah ich nur schwarze Schuhe und eine graue Hose.
In dem Licht, das aus dem Gang hereinfiel, konnte ich die Ziffern auf dem Telefon erkennen und wählte erneut die Notrufnummer. Dabei stieß ich ein leises Wimmern aus.
»Da bist du ja. Du hast dich wohl versteckt, oder?«
Beim Klang seiner Stimme verebbte meine Angst sofort, und ich fühlte mich plötzlich wunderbar ruhig. Es war, als hätte sich ein heftiger Schneesturm schlagartig gelegt, sodass ich wieder klare Sicht hatte. Ich stand auf, das Telefon immer noch in der Hand.
»Stuart? Was machst du denn hier?«
»Was glaubst du denn, dass ich mache? Ich bin gekommen,
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