Der Feind in deiner Nähe
Schuhe. Als ich den Kopf hob, erkannte ich einen Mann, nein, zwei Männer in Uniform, und hinter mir hörte ich Stuart sagen: »Es war ein Unfall, ich habe sie nicht gestoßen, es war ein Unfall, ich wollte das nicht, ich wollte nie, dass …«
»Hallo«, sagte ich. Dann ließ ich mein Gesicht auf den kühlen, staubigen Boden sinken und schloss die Augen. Ich empfand plötzlich ein Gefühl von Frieden, fast schon Glück. »Ich bin froh, dass Sie gekommen sind.«
Sie führten Stuart in Handschellen ab, obwohl ich Ihnen immer wieder versicherte, dass es eigentlich nicht seine Schuld war.
Jedenfalls gab ich ihm nicht die Schuld. Ich gab niemandem die Schuld.
Nun lag ich auf einer Trage, und jemand breitete eine weiche Decke über mich. Eine Frau hielt meine Hand, während ich in den Krankenwagen geschoben wurde. Diese Leute wussten, was sie zu tun hatten, und ich musste nicht mehr denken und auch nichts mehr fühlen oder fürchten. Auf der Straße blieben die Leute neugierig stehen, stießen sich an, deuteten auf den Krankenwagen, unterhielten sich aufgeregt. Ich hörte jemanden meinen Namen sagen, und dann vernahm ich ihn immer wieder, als würde er von einem zum anderen getragen wie ein im Wind raschelndes Blatt. Holly Krauss, Holly Krauss, Holly Krauss …
Aber eigentlich interessierte mich das nicht besonders.
Und dann war da plötzlich jemand anderer neben mir. Eine Gestalt schob sich durch die offenen Türen des Krankenwagens und kniete sich neben mich.
»Holly?«
»Hallo, Charlie. Nun bist du also doch noch nach Hause gekommen.«
»Was hast du getan?«
»Die Frage ist wohl eher, was ihr angetan worden ist«, erklärte die Frau, die meine Hand gehalten hatte. »Das war noch Glück im Unglück.«
»Du riechst so gut«, sagte ich. »Nach Vanille.«
»Wer war das?«
»Stuart. Aber er wollte mir eigentlich gar nichts tun. Er war bloß betrunken.«
»Dein Gesicht …«
»Glaub mir, es geht mir gut.«
»Es ist ganz …«
»Sehe ich schlimm aus? Das wird schon wieder.«
Das war ein Wirbelsturm gewesen, dachte ich, aber er hatte uns nur gestreift. »Das Wetter ist in mir«, murmelte ich.
»Was?«
»Nicht so wichtig. Würdest du meine Hand halten?«
Er nahm sie und tätschelte sie sanft, wirkte dabei aber irgendwie benommen, fast abwesend.
»Wir müssen reden«, sagte ich. Ich hatte das Gefühl, nun schon seit Wochen immer dieselben drei Worte zu wiederholen.
Charlie gab mir keine Antwort. Die Türen gingen zu, und der Krankenwagen fuhr los.
Mir fehlte nicht viel, auch wenn sie mich über Nacht dabehiel-ten, um ganz sicherzugehen. Ein alter Bluterguss im Gesicht, eine neue Platzwunde am Hinterkopf, die mit ein paar Stichen genäht werden musste, ein geschwollener Knöchel, ein schmerzender Nacken und aufgeschürfte Schienbeine von meiner Schlitterpartie die Treppe hinunter. Die Polizeibeamtin, die mich am nächsten Morgen befragte, berichtete mir, Stuarts Gesicht sehe schlimmer aus als meines. Der arme Stuart. Ich schilderte ihr, was passiert war. Sie notierte alles, las es mir anschließend noch einmal vor und ließ mich dann unterschreiben. Als ich sie fragte, was jetzt mit ihm geschehen würde, zuckte sie nur mit den Achseln. Ich drehte mein Gesicht zur Wand und wartete, bis sie weg war.
Aus dem friedlichen Gefühl, das ich letzte Nacht empfunden hatte, war inzwischen eher Traurigkeit geworden. Ich dachte über Charlie und mich nach. Und über Meg und mich. Dies waren die zwei Menschen, die ich am meisten auf der Welt liebte. Vielleicht die Einzigen, die ich überhaupt liebte –
abgesehen von meiner Mutter, die ich nur liebte, weil sie meine Mutter war. Wenn es Meg und Charlie nicht mehr gäbe, wer würde mir dann noch bleiben? Eine Schar netter Bekannter, die nichts über mich wusste, außer dass ich gern im Mittelpunkt stand: amüsant, aber manchmal ein bisschen unberechenbar. Ich humpelte ins Bad und stellte mich vor den Spiegel. Mein Haar wirkte fettig, eine Seite meines Gesichts wies einen schmutzigen Gelbton auf, meine Lippen waren aufgesprungen, und ich hatte dunkle Augenringe. Wenn sie mich jetzt hätten sehen können, würden sie vielleicht anders über mich denken.
21
Während der Heimfahrt kam ich mir vor wie die hässliche Parodie einer jungen Mutter, die von ihrem liebenden Ehemann aus dem Krankenhaus abgeholt wurde. Allerdings hatten wir kein Baby, und ein besonders freudiges Ereignis war es auch nicht. Ich hielt eine Tragetasche auf dem Schoß, in dem meine zerrissenen,
Weitere Kostenlose Bücher