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Der Feind in deiner Nähe

Titel: Der Feind in deiner Nähe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicci French
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unten und auf der Seite tonnenwei-se Stein und Erde. Wir sind da lebendig begraben, begreifst du das denn nicht, Charlie? Wir stecken in diesen kleinen Sauer-stoffkapseln, und jeder atmet den muffigen, schmutzigen Morgenatem aller anderen ein.«
    »Dann fahren wir eben mit dem Bus.«
    »Wir können zu Fuß gehen, über die wacklige Brücke. Da musst du mich aber festhalten – wer weiß, was mir sonst einfällt.«
    »Holly, setz dich aufs Bett und warte. Ich springe schnell unter die Dusche. Du solltest dir etwas Richtiges anziehen.«
    »Mach dir deswegen keine Sorgen«, antwortete ich. »Mach dir meinetwegen keine Sorgen.«
    »Versprichst du mir, dass du auf mich wartest?«
    »Versprochen. Großes Indianerehrenwort.«
    Was für ein süßer Idiot er doch war, mir zu trauen. Er ging ins Bad, und ich hörte ihn das Wasser aufdrehen. Ich wackelte auf meinen ungleich hohen Absätzen die Treppe hinunter und aus dem Haus.
    Obwohl ich zu Fuß ging, hatte ich das Gefühl, in einem immer schneller fahrenden Wagen zu sitzen. Alles Mögliche tauchte wie aus dem Nichts vor mir auf, Bäume, Menschen und Wände.
    Meine Füße trafen auf den Randstein, und ich stolperte auf die Straße hinaus. Hinter mir hörte ich lautes Hupen und quietschende Reifen. Als ich mich umdrehte, starrte mich hinter einer Windschutzscheibe ein verzerrtes Gesicht an. Schon wieder jemand, der mich wirklich hasste. Ich konnte es an den bösen, wütenden Augen sehen. Ich humpelte schief über die Straße, eine Schulter höher als die andere.
    »Passen Sie doch auf, wo Sie hingehen!«
    Eine Frau mit einem Kinderwagen. Ich sah den dunklen Ansatz ihres blond gefärbten Haars. Am liebsten hätte ich ihr gesagt, dass alles irgendwann zum Vorschein kommt. Man kann nicht tricksen. Man kann die Leute nicht lange zum Narren halten. Es ist total lächerlich, wie wir uns alle einbilden, den anderen etwas vormachen zu können. Wir sind doch alle ein Teil derselben verrückten Scharade. Ich kann mich an Scharaden aus meiner Kindheit erinnern. Film: Man dreht die Faust, um die Filmspule nachzuahmen. Vier Worte: Man hält vier Finger hoch. Erstes Wort, zwei Silben, weiblicher Vorname. Richtig, Holly. Zweites Wort, eine Silbe. Das war leicht zu erraten, stimmt’s? Krauss. Holly Krauss. Holly Krauss ist Scheiße. Ja, ja, ja!
    Ich ging über die Brücke. Über dem Fluss hingen Nebelfetzen.
    Anscheinend war es kalt, denn ich atmete kleine weiße Wolken aus. Ich spürte, wie sich die Brücke unter mir bewegte. Ich schwöre, dass sie schwankte wie eine von diesen wackligen Hängebrücken, bei denen in den Abenteuerfilmen immer die Hälfte der Bretter fehlt. Ich war ständig am Stolpern. Dabei sah es immer noch so weit aus. Wie sollte ich da jemals bis auf die andere Seite kommen? Ich hatte das schon öfter geschafft. Hieß das, dass ich es auch dieses Mal schaffen konnte? Ich hatte alles schon einmal getan: gelogen, gelacht und all diese gottver-dammten Tage hinter mich gebracht. Bedeutete das, dass mir das jetzt auch wieder gelingen würde? Funktionierte so das Leben? Steckte wirklich nicht mehr dahinter?
    Das Ende der Brücke kam näher. Ich blickte mich um und glaubte eine vertraute Gestalt zu erkennen, aber der Wind ließ meine Augen tränen, sodass ich nicht sicher war. Autos fuhren knapp an mir vorbei. Leute gingen in weitem Bogen um mich herum. Sie schienen mich zu meiden wie die Pest. Sehr klug von ihnen. Meine Füße glitten auf dem eisigen Boden immer wieder aus. Ich legte eine Hand auf das Geländer und spürte die Kälte.
    Wenn ich jetzt hier stehen blieb, dann würden meine Finger wahrscheinlich an dem Metall festfrieren. Ich setzte mich wieder in Bewegung. Links, rechts, links, rechts.
    Nur noch ein paar Schritte, dann hatte ich die Brücke endlich geschafft. Der Wind blies mir ins Gesicht, und ich stolperte immer wieder. Ein seltsamer kleiner Laut drang aus meiner Kehle, gefolgt von einem zweiten.
    »Geht es Ihnen nicht gut, meine Liebe?«
    Ich starrte in das Gesicht einer Frau mit stacheligem braunem Haar und spitzem Kinn. Sie hatte einen Wassertropfen an der Lippe und einen abgebrochenen Zahn. Ein nettes Gesicht.
    Braune Augen, leicht hochgezogene Brauen.
    »Geht es Ihnen nicht gut?«, wiederholte sie.
    »Warum wollen Sie das wissen?«, fragte ich.
    »Sie scheinen Probleme zu haben. Vielleicht kann ich Ihnen irgendwie helfen.«
    »Ja, allerdings.« Ich begann zu lachen.
    »Wen soll ich anrufen?«
    »Ich habe keine Ahnung.«
    Sie schob ihre Hand unter meinen

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