Der Feind in deiner Nähe
hatte nichts zu bedeuten. Ich weiß, ich bin verheiratet. Ich weiß, ich weiß, ich habe schon mit Charlie darüber gesprochen, es war schrecklich, aber wir arbeiten daran. Dann ist da noch so ein junger Typ, der zu mir ins Haus kam und mir den ganzen Boden voll gepisst hat – aber darüber darf ich nicht sprechen. Das darf niemand wissen.« Ich hielt inne. »Wenn ich mich selbst so reden höre, wird mir klar, dass sich das von Ihrer Warte aus ziemlich verrückt anhören muss. Trotzdem ist wirklich alles wahr. Fragen Sie die Polizei nach dem Mann, der mich angegriffen hat. Aber nicht die Beamten, die mich gebracht haben, die wissen darüber wahrscheinlich nicht Bescheid. Oder fragen Sie Charlie, meinen Mann. Ich weiß, dass ich mich paranoid anhöre, aber es ist alles absolut wahr. Sie können es gerne überprüfen.« Ich schwieg einen Moment. »Ach nein, sparen Sie sich die Mühe, es spielt sowieso alles keine große Rolle mehr. Es ist nicht mehr wichtig, oder?« Ich versuchte Augenkontakt mit ihr herzustellen, aber sie kritzelte gerade etwas auf ihr Klemmbrett.
Dann blickte sie hoch. »Erzählen Sie mir, was passierte, als Sie von der Polizei aufgegriffen wurden.«
»Ich habe nicht viel mitbekommen«, erklärte ich. »Ich war auf dem Weg zur Arbeit. Es gab irgendein Handgemenge. Die Polizisten haben das Ganze völlig falsch aufgefasst. Sie hätten den Dingen ihren Lauf lassen sollen.«
»War Ihr Verhalten ungewöhnlich?«
»Ich weiß nicht, wie Sie das meinen. Was schreiben Sie denn da auf Ihr Klemmbrett?«
»Ich mache mir Notizen.«
»Habe ich bestanden?«
»So ist das nicht.«
»Sie versuchen, mich in Ihre kleinen Fächer einzuordnen, mich zu beurteilen, stimmt’s?«
»Zumindest provisorisch, ja.«
»Das wird nicht funktionieren, weil mir jetzt ja klar ist, was Sie vorhaben. Jetzt können Sie nicht mehr wissen, ob ich die Wahrheit sage oder nur das, was Sie meiner Meinung nach hören wollen. Oder ob ich sage, was ein normaler Mensch in einer solchen Situation sagen würde. Oder ob ich vielleicht tatsächlich ein normaler Mensch bin, der normale Sachen sagt.
Oder aber ein normaler Mensch, der unnormale Sachen sagt, weil er aufgeregt ist und deswegen versucht, das Verhalten eines normalen Menschen nachzuahmen, dabei aber womöglich scheitert.«
»Sie tragen ein Nachthemd«, stellte Dr. Mehta fest.
»Brillant beobachtet. Jetzt haben Sie mich aber erwischt!
Wirklich brillant. Ist das irgendeine Art Spiel?«
»Es war nur eine Feststellung.«
Hinter dem Vorhang bewegte sich etwas. Jemand versuchte durchzukommen und schaffte es witzigerweise nicht. Ich musste an den Vorhang im Theater denken, vor oder nach der Vorstellung. Ein Gesicht tauchte auf. Ein vertrautes Gesicht. Charlie.
»Holly«, sagte er, »was ist los? Wo bist du hin? Ich habe dich gesucht! Ich bin überall herumgerannt und hab nach dir gesucht.
Erst hast du doch noch im Nachthemd auf dem Bett gesessen, und eine Minute später – oh, du trägst ja immer noch dein Nachthemd. Was ist los? Was hast du getan? Da kam so ein seltsamer Anruf – angeblich hast du jemanden angegriffen, eine junge –«
»Es ist nichts«, unterbrach ich ihn. »Ich hatte bloß einen blöden Unfall.« Ich hielt meine Hände hoch, die gleich nach meiner Ankunft von einer Krankenschwester verbunden worden waren. »Ich bin gestürzt und habe mir die Hände und die Knie aufgeschlagen. Sie haben mich hierher gebracht, und nun stellen sie mir eine Menge Fragen. Ich verstehe das alles nicht.«
»Ist das Ihr Mann?«, fragte Dr. Mehta.
»Er ist nett, nicht wahr? Alle mögen Charlie.«
Sie wandte sich an Charlie. »Könnte ich kurz mit Ihnen sprechen?«
Die beiden verzogen sich hinter den Vorhang und ließen mich ohne Publikum auf der Bühne zurück. Jetzt war nur noch Gott mein Zuschauer. Nach ein paar Minuten kehrte Dr. Mehta allein zurück. »Charlie wartet draußen«, erklärte sie.
»Er kommt nachher noch einmal zu Ihnen herein.«
»Nimmt er mich mit nach Hause?«
»Ich muss Ihnen noch ein paar Fragen stellen. Erzählen Sie mir von Ihren Schlafgewohnheiten.«
»Da sind Sie ein bisschen spät dran«, antwortete ich. »Vor ein paar Wochen hatte ich so viel zu tun, dass ich nicht mehr zum Schlafen kam. Ich habe oft tagelang nicht geschlafen. Wissen Sie, dass es Forschungsergebnisse gibt, die besagen, dass ein Mensch, den man nicht schlafen lässt, verrückt wird? Das stimmt. Aber ich bin darüber hinweg. Ich habe geschlafen und geschlafen wie … wie ein Wal?
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