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Der Feind in deiner Nähe

Titel: Der Feind in deiner Nähe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicci French
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Ellbogen. Jemand stieß ein seltsames Geräusch aus, ein wildes Heulen. Die Leute standen im Kreis herum, und ich sah nur noch Gesichter, die auf mich herabstarrten. Ich saß auf dem Gehsteig. Das muss kalt sein, dachte ich. Ich schien keine Strümpfe zu tragen, und mein Knie war blutig. Das sah bestimmt sehr komisch aus, aber vielleicht würden sie denken, dass ich bloß ausgerutscht und hingefallen war.
    »Ich bin ausgerutscht und gefallen«, erklärte ich. »Ausgerutscht und hingefallen.«
    »Seht mal, was die anhat«, sagte eine Stimme. »Die ist doch betrunken.«
    »Nur ordnungswidrig«, stellte ich richtig.
    »Was sagt sie?«
    »Ordnungswidrig!«, antwortete ich ein wenig lauter.
    »Jetzt schreit sie irgendwas. Bestimmt hat sie Drogen genommen. Wir müssen die Polizei verständigen.«
    Es stimmte, dass jemand schrie. Irgendetwas geriet da definitiv außer Kontrolle. Es war wie auf einer Party, wo im Nebenraum eine Schlägerei im Gange ist. Man hört Leute schreien und Glas splittern, aber wenn man dann hinüberläuft, um herauszufinden, was vor sich geht, ist bereits alles vorbei. Man sieht nur noch das Ergebnis: Scherben, umgeworfene Stühle, Leute, die sich hochrappeln. So ähnlich schien es auch jetzt zu sein. Offenbar war es zu Handgreiflichkeiten gekommen. Aus dem Augenwin-kel sah ich ein paar Leute auf dem Boden liegen und seltsame Geräusche von sich geben. Meine Knie und Handflächen brannten. Als ich meine Hände betrachtete, sah ich rosafarbene Abschürfungen, gesprenkelt mit kleinen Kiesstückchen. Ein paar Neugierige blieben stehen, als hätte es einen Autounfall gegeben. Andere gingen rasch vorbei. Es handelte sich offensichtlich um einen Notfall, aber obwohl ich mich mehrmals nach der verletzten Person umblickte, konnte ich sie nirgendwo entdecken. Anscheinend befand sie sich jedes Mal knapp außerhalb meines Gesichtsfeldes. »Sie ist hinter dir«, sagte eine Stimme leise zu mir, damit die anderen es nicht hören konnten.
    Ich versuchte, einen Blick auf sie zu erhaschen, indem ich mich ganz schnell umdrehte, aber sie war schneller und schon wieder weg. Ich fragte ein paar Leute, was denn los sei, aber niemand konnte es mir verständlich erklären. Ein paar Mädchen im Teenageralter lachten mich einfach aus, als ich sie fragte.
    Deswegen wollte ich auf sie losgehen, um ihnen eine Lektion zu erteilen, aber sie waren ebenfalls zu schnell für mich, drei kleine Stierkämpferinnen mit mir als Stier.
    Ein Wagen hielt an, und ein Polizist und eine Polizistin stiegen aus. Ich fragte sie, ob wir uns gestern Abend kennen gelernt hätten. Meine Erinnerung war ein wenig getrübt. Ich rechnete damit, dass sie anfangen würden, Leute zu verhaften und zu verhören, aber die Polizistin kam auf mich zu und sah mir in die Augen. Ich hatte das Gefühl, als wäre mein Gesicht ein Fenster, durch das sie etwas weit Entferntes betrachtete. Die beiden nahmen mich in ihre Mitte. Ich versuchte, mich aus ihrem Griff zu befreien, aber sie ließen meine Arme nicht los. Während ich noch zu erklären versuchte, dass es sich um eine Verwechslung handeln müsse, wurde ich bereits auf den Rücksitz des Streifenwagens geschoben. Sie schienen mich nicht zu hören, sodass ich gezwungen war, sie anzuschreien, aber sie schenkten mir noch immer keine Beachtung. Die Polizistin nahm neben mir Platz, und der Wagen fuhr los.
    »Ich komme zu spät zur Arbeit«, erklärte ich. »Ich werde Ihnen sagen, wie Sie fahren müssen. Es sei denn, Sie bringen mich nach Hause. Ich wohne hier ganz in der Nähe, am anderen Ende der Straße. Sie werden wenden müssen.« Der Wagen wendete nicht. »Fahren wir aufs Polizeirevier? Es tut mir Leid, aber ich habe meinen Aussagen nichts hinzuzufügen.«
    Aber sie fuhren mich weder aufs Revier noch zur Arbeit und auch nicht nach Hause.

    23
    »Wissen Sie, wo Sie sind?«
    »Ja«, antwortete ich.
    Dann schwiegen wir beide.
    »Und?«
    »Was, und?«
    »Wo sind Sie?«
    »Das haben Sie mich nicht gefragt«, gab ich zur Antwort.
    »Sie haben bloß gefragt, ob ich weiß, wo ich bin. Und ich habe Ja gesagt. Weil ich es weiß.«
    Sie atmete tief durch.
    »Na schön. Könnten Sie mir jetzt vielleicht sagen, wo Sie sind?«
    »Ja, das könnte ich. Heißt das, Sie wollen, dass ich es Ihnen sage?«
    »Ja, bitte.«
    »Eigentlich müssten Sie das ja selbst wissen. Sie arbeiten schließlich hier.«
    »Ich möchte wissen, ob Sie es wissen.«
    »Ich arbeite nicht hier.«
    Ich konnte nicht anders, als loszuprusten. Der Tag hatte

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