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Der Feind in deiner Nähe

Titel: Der Feind in deiner Nähe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicci French
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weiß das nur, weil es mir später berichtet wurde –, entließ man mich in die Obhut meines Mannes, weil der verantwortli-che Arzt zu dem Schluss gekommen war, dass ich weder für andere noch für mich selbst eine unmittelbare Gefahr darstellte.
    Wie sollte ich auch? Ich vegetierte nur noch vor mich hin, konnte nicht einmal mehr allein essen. Bei dem Vorfall auf der Brücke war niemand ernstlich zu Schaden gekommen, und es hatte keine Anzeige gegeben.
    Das alles weiß ich nur von anderen, ich selbst habe nichts davon mitbekommen. Ich kann mich hauptsächlich an Bilder erinnern: Licht auf dem Linoleumboden, Verbände an den Handgelenken eines jungen Mädchens, eine alte Frau, die auf ihrer Lippe herumkaute, Essen von einem Rollwagen, Plastikga-beln, Pillen. Auch an Geräusche erinnere ich mich: Schreie mitten in der Nacht, eine Frau, die sich im Flüsterton mit sich selbst unterhielt, das Geplauder von ein paar Krankenschwestern, die gerade Pause hatten, Stimmen aus dem Fernseher. Und Gerüche: nach Desinfektionsmitteln, Essen und Urin. Ich erinnere mich auch noch an das spärliche graue Haar des Arztes, seinen weiten Pulli, seine freundlichen Augen. Ich glaube, ich nannte ihn »Daddy«. Ich glaube, er hielt meinen Arm. Aber vielleicht war das auch Charlie. Oder ein Traum.

    Ich weiß noch, dass Charlie mir eines Tages erzählte, ein seltsamer junger Mann mit geschorenem Haar habe mit einem Ziegelstein eines unserer Fenster eingeworfen und sei dann kichernd davongerannt. Ich stammelte etwas, das der Beginn einer Beichte werden sollte, aber Charlie tätschelte nur meine Hand und sagte, ich solle mir keine Sorgen machen.

    Ich erinnere mich an eine Vase mit Blumen, einen ordinären, viel zu bunten Blumenstrauß, dessen penetranten Duft ich sogar im Schlaf riechen konnte. Charlie wusste nicht, von wem er stammte, und ich wollte gar nicht erst darüber nachdenken, weshalb ich versuchte, ihn loszuwerden, indem ich die Vase vom Tisch stieß. Doch wie sich herausstellte, bestand sie aus Plastik. Nachdem die Krankenschwester ein bisschen mit mir geschimpft und das Wasser aufgewischt hatte, steckte sie die Blumen zurück in die Vase und stellte sie auf den Tisch am Fußende meines Bettes, wo ich sie nicht erreichen konnte und sie ständig im Blick hatte.

    Und ich erinnere mich an ein Gespräch mit dem Psychiater Dr. Thorne, auch wenn es eine Erinnerung von ganz seltsamer Art ist, als würde ich mir einen Film in einer Sprache ansehen, die ich nicht verstehe. Als würde dieser Film aus einer völlig anderen Kultur kommen, sodass ich nicht einmal in der Lage bin, die Gestik und Mimik der Darsteller zu deuten. Ich saß in meinem Bett und blickte auf meine Hände hinunter, die auf der Decke lagen. Auf der einen Seite hatte Charlie, auf der anderen Dr. Thorne Platz genommen. Wir waren umringt von einer Schar von Studenten, alle jünger als ich, wissbegierige Kinder.
    »Zu welchem Ergebnis sind Sie gekommen?«, fragte ich.
    Dann überraschte ich mich selbst und wohl auch ihn, indem ich nach seinem Arm griff. »Was passiert jetzt mit mir?«
    »Sie leiden an einer bipolaren affektiven Psychose«, erklärte er.
    »Manisch-depressiv?«, fragte Charlie. »Ja, das habe ich mir schon gedacht.«
    »Nein«, widersprach ich. »Ich doch nicht.« Vielleicht sagte ich das aber auch gar nicht laut, sondern dachte es mir nur.

    Ich vernahm Worte – »kurze Zyklen«, »Medikamente«, »Vorfälle«, »chemisches Ungleichgewicht«, »voll ausgeprägt«,
    »Behandlungsweise«. Außerdem hörte ich ständig meinen Namen, aber es kam mir vor, als würde er jemand anderem gehören. Ich blickte auf meine Hände hinunter, starrte auf die abgebissenen Nägel und den Ehering an meinem Finger. Eine Träne tropfte auf die grobe braune Decke und versickerte darin.
    »Ich bin manisch-depressiv?«, fragte ich in das Wirrwarr aus hässlichen Worten hinein.
    »Ja, Holly«, antwortete Dr. Thorne. »Sie leiden an einer Krankheit.«
    »Nein, ich leide an mir selbst«, hätte ich am liebsten geantwortet. Vielleicht habe ich es auch gesagt.
    »Wir können Ihnen helfen«, fuhr er fort. »Wir können dafür sorgen, dass der Schmerz verschwindet. Mit Lithium«, fügte er hinzu.
    Ich kannte dieses Wort. Es war ein Wort für andere Leute.
    »Nebenwirkungen«, sagte er gerade. »Übelkeit, Durchfall, Gewichtszunahme, Durst, Hautprobleme.« Benommen starrte ich ihn an.
    »Und bis das Lithium zu wirken beginnt, geben wir Ihnen zusätzlich noch etwas anderes.«
    Ich fühlte

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