Der Feind in deiner Nähe
mich, als hätte mir jemand einen Schlag auf den Kopf verpasst.
»Aber dann bin ich doch nicht mehr ich selbst«, wandte ich ein.
»So ist das nicht«, antwortete er.
Ich erinnere mich daran, wie ich nach Hause zurückkehrte. Tage nachdem ich von einem Streifenwagen ins St. Jude’s gebracht worden war, geleitete Charlie mich aus dem Krankenhaus. Ich spürte den kalten Regen auf meinem Gesicht, den Boden unter meinen Füßen.
»Einen Schritt nach dem anderen«, sagte Charlie.
So begann ich meine Reise.
Ich hatte einen Geschmack im Mund, den ich nicht mehr loswurde. Kopfschmerzen kamen und gingen. Meine Haut juckte. Vor allem aber war ich müde. Ich lag die ganze Zeit im Bett. Charlie brachte mir Tee und Essen und passte auf, dass ich meine Tabletten nahm. Er sah mir zu, wenn ich sie schluckte.
Manchmal schob er sie mir sogar in den Mund und hielt mir einen Becher voll Wasser an die Lippen, damit ich sie hinunter-spülen konnte. Einmal am Tag ließ er mir ein Bad ein, half mir in die Wanne und wusch mich mit einem Schwamm. Genauso gut hätte er ein Stück totes Fleisch waschen können. Ich bekam dieses Bild nicht mehr aus dem Kopf. Es erklärte alles, was in den vergangenen Monaten passiert war. Vor meinem geistigen Auge sah ich mich selbst als einen großen Klumpen Fleisch, der irgendwo in einem Wald hing. Er würde Fliegen anziehen und von Maden zerfressen werden. Aas fressende Tiere würden auftauchen und um die Beute kämpfen. Jedes würde versuchen, ein Stück von dem toten Fleisch zu ergattern.
Ich versuchte einen Roman zu lesen, aber die Worte ergaben keinen Sinn. Nach ein paar Seiten wusste ich schon nicht mehr, wer die einzelnen Leute waren. Immer hatte ich diesen Geschmack auf der Zunge, der sich auch unter alles legte, was ich ansah oder hörte. Ich bevorzugte die Stille meines abgedunkelten Zimmers. Wenn ich schlief, träumte ich von Rees, Stuart und Deborah, von dem Skinhead, der mir vor die Füße pisste, von Händen, die nach mir griffen, von Gesichtern, die mich höhnisch angrinsten. Und diese Träume wirkten auch in den Tag hinein. Ich konnte nicht aufhören, an all die Leute zu denken, die mich hassten. Ich hatte sie dazu gebracht, mich zu hassen, sie regelrecht dazu provoziert. Bilder aus meiner Vergangenheit scharten sich um mein Bett wie unerwünschte Besucher. Vor meinem geistigen Auge sah ich ihre Gesichter, ihre feindseligen, wachsamen Augen. Ich stellte mir vor, wie sie in der wirklichen Welt außerhalb meines Kopfes darauf warteten, es mir heimzu-zahlen, sobald ich mich irgendwann wieder dorthin hinauswagen würde. Ich zog mir die Bettdecke über den Kopf.
Schlaf war besser als Wachsein, Dunkelheit besser als Licht.
*
Jeden Tag besuchte uns Naomi. Ich fand es tröstlich, ihre klare Stimme in der Küche zu hören. Sie brachte uns Kuchen, selbst gebackenes Brot, Suppen und Eintöpfe, wovon ich aber meist nichts essen konnte, weil mir so flau im Magen war. Manchmal kam sie herauf und legte mir eine Hand auf die Stirn oder maß meinen Puls. Sie sagte, es werde mir bestimmt bald besser gehen. Ich solle mir keine Sorgen machen. Dann schloss ich einfach die Augen, und sie ging wieder hinunter zu Charlie, der nicht mal mehr so tat, als würde er arbeiten, sondern alles so laufen ließ und darauf wartete, dass es mir wieder besser ginge.
Ich hörte sie unten in der Küche reden, auch wenn ich nicht verstand, was sie sagten. Mein Leben ging ohne mich weiter.
Meg kam: Sie setzte sich neben meinem Bett auf einen Stuhl und sagte Dinge, die keiner Antwort bedurften. Ich glaube, sie las mir sogar aus dem Band mit den fröhlichen Gedichten vor, den ich ihr vor so endlos langer Zeit geschenkt hatte. Aber vielleicht war auch das nur ein Traum, einer von vielen.
Ich versuchte ihr zu sagen, dass ich über alles Bescheid wisse, aber meine Worte ergaben keinen Sinn. Sie lehnte sich vor und wischte mir mit einem Taschentuch über die Wange. Anscheinend weinte ich, auch wenn ich zu weit von mir selbst entfernt war, um meinen Kummer zu fühlen. Ich befand mich in einem anderen, heimlichen Leben, von dem nur ich etwas wusste.
Wie aus dem Nichts tauchte vor meinem geistigen Auge plötzlich ein Bild aus meiner Kindheit auf: Mein Vater saß am Küchentisch und hatte die Hände vors Gesicht geschlagen.
Zwischen seinen Fingern quollen Tränen hervor. Ich hatte ihn immer als ausgesprochen fröhlich in Erinnerung gehabt. Wo kam plötzlich dieses Bild der Trauer her?
»Mein Vater«, sagte ich zu
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