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Der Feind in deiner Nähe

Titel: Der Feind in deiner Nähe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicci French
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Charlie, als er mir das nächste Mal meine Pillen in den Mund schob.
    »Ja?«
    »Er war wie ich.«
    »Du meinst …?«
    »Er war manisch-depressiv. Natürlich war er das. Warum um alles in der Welt habe ich das nicht eher begriffen? Das erklärt alles und –« Ich schlug mir die Hand vor den Mund.
    »Was ist?«
    »Er hat sich umgebracht, nicht wahr? Natürlich, so muss es gewesen sein. Er war wie ich, und dann hat er sich umgebracht.
    Es sitzt in meinen Genen.«
    »Hör auf.«

    Ich hasste die Pillen, die ich mehrmals am Tag schlucken musste. Es waren moderne Tabletten, klein und glänzend, und sie steckten in Plastikfläschchen, auf denen gesetzlich geschütz-te Markennamen standen. Aber im Gegensatz zu Aspirin oder Penizillin war Lithium kein geniales Produkt der Pharmaindust-rie. Es war ein Element, ein lehmartiges Metall, das ich in der Schule im Chemieunterricht gesehen hatte. Es hatte etwas Geologisches, und nun befand es sich in mir, wie Metalladern in einem Felsen. Ich schmeckte es auf meiner Zunge und war sicher, bereits Veränderungen an meinem Körper feststellen zu können. Er fühlte sich nicht mehr so an, als gehörte er mir.
    »Ich bin manisch-depressiv. All die Eigenschaften, die mich so besonders machen – so besonders gemacht haben –, sind nur ein Teil meiner Krankheit. Wer bin ich dann noch? Ich war immer der Meinung, dass man sich durch sein Tun und Handeln definiert. Dass ein Mensch aus all seinen Erinnerungen besteht.
    Das ist mir jetzt genommen worden, die guten Zeiten ebenso wie die schlechten. Die Zeiten, in denen ich mich so mies fühlte, dass ich am liebsten allem ein Ende gesetzt hätte, aber auch die Zeiten, in denen ich das Gefühl hatte, nach den Sternen greifen zu können. All die wunderbaren Stunden, die ich erleben durfte.
    Inzwischen habe ich das Gefühl, dass das gar nicht ich war, jedenfalls nicht mein wahres Ich. Es waren alles nur Symptome.
    Ob ich mich daneben benahm oder nicht, hing nur von dem chemischen Ungleichgewicht in meinem Körper ab. Das ist eine großartige Entschuldigung, aber ich will sie nicht. Ich will ich sein. In guten und schlechten Zeiten, einfach nur ich.«
    Auf wen redete ich da eigentlich ein, wen schrie ich an? Mich selbst natürlich – mein anderes Ich, die alte Holly Krauss, jene weit entfernte Gestalt aus einer vergangenen Welt, an deren kräftige Farben und intensive Empfindungen ich mich kaum noch erinnern konnte.

    Ich sehnte mich danach, sanft in den Arm genommen und festgehalten zu werden, damit ich nicht wieder zerbrach. Das Bett, in dem ich lag, fühlte sich an wie ein fragiles kleines Boot, das von tosenden Wellen hin und her geworfen wurde. Als ich die Augen schloss, spürte ich, wie mich das Wasser hinunterzog.

    *

    Ich stand auf, zog mir etwas Richtiges an, putzte mir die Zähne, bürstete mein Haar. Dann betrachtete ich mein Gesicht im Spiegel, erkannte es aber kaum wieder. Langsam ging ich nach unten, tastete mich wie eine Blinde Schritt für Schritt vor. Unten wanderte ich von Raum zu Raum. Alles kam mir fremd und verändert vor. Die Tür befand sich jetzt weiter auf der Seite, und das Spülbecken war niedriger, als ich es in Erinnerung gehabt hatte.
    Ich ging in den Garten hinaus, wo meine Füße im Tau Abdrü-
    cke hinterließen. Ich sagte mir, dass nichts ewig währte.
    Irgendwann würde der Frühling kommen. Irgendwann würde es wieder Frühling werden.

    25
    »Andere Leute kommen mit diesen Medikamenten doch auch klar, also warum ich nicht? Ich habe einfach nicht mehr das Gefühl, ich selbst zu sein. Ich fühle mich so – so richtig beschissen. Auf der ganzen Linie.«
    Naomi betrachtete mich eine Weile nachdenklich, dann stand sie auf. »Warte hier«, sagte sie.
    Etwa zwanzig Minuten später kam sie mit einer großen Tragetasche zurück, aus der sie alle möglichen Päckchen und Kartons hervorkramte. Kamillentee. Johanniskraut. Multivitamintablet-ten, Fischöl und Nachtkerzenölkapseln. Eine Flasche Lavendel-Badesalz, dazu eine nach Lavendel duftende Kerze, Räucher-stäbchen. Sogar eine CD mit angeblich beruhigender Panflötenmusik befand sich darunter.
    »Schmeiß deine Pillen weg«, sagte sie.
    Ich starrte sie an.
    »Probier’s aus.«
    »Aber verrate es Charlie nicht«, sagte ich.

    Nachdem Charlie zu seiner Joggingrunde aufgebrochen war, nahm ich die Fläschchen mit den Tabletten und betrachtete sie.
    Allein schon der Gedanke, eine davon auf meine Handfläche zu legen und hinunterzuschlucken, verursachte mir

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