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Der Feind meines Vaters - Roman

Der Feind meines Vaters - Roman

Titel: Der Feind meines Vaters - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Almudena Grandes
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als wären wir Soldaten in einer Formation.
    »Du wächst, Nino«, erklärte er schließlich und senkte den Kopf, um von oben zu schätzen, wie weit unsere Schultern auseinanderlagen. »Und wie!«
    »Kann nicht sein«, wandte ich ein, aber als ich unsere Schultern betrachtete, stellte auch ich fest, dass sie näher aneinandergerückt waren als früher. »Kinder wachsen nur im Sommer.«
    »Ja? Nun gut, dann bleiben dir noch ein paar Tage.«
    »Paquito wächst immer im Juli und August, wenn es sehr heiß ist.«
    »Kann sein, dass Paquito im Sommer wächst, aber deine Zeit ist der Herbst, glaub mir …«
    Er hatte recht. Bevor ich an diesem Abend das Haus betrat, stellte ich mich an den Pfosten, an dem Vater jedes Jahr mit seinem Taschenmesser meine Größe markierte, und legte einen Finger auf meinen Kopf. Ich stellte fest, dass der Abstand zwischen meinem Finger und der letzten Kerbe doppelt so groß war wie der zwischen den beiden letzten. Ich war froh, beschloss nach langem Überlegen aber trotzdem, niemandem etwas zu verraten und darauf zu warten, dass am 14. Januar eine unverhoffte Freude die Enttäuschungen aller Geburtstage, an die ich mich erinnern konnte, wiedergutmachen würde. Bis dahin waren es noch fast vier Monate, eine Ewigkeit, aber alles, innerhalb und außerhalb meines Körpers, war dabei, sich zu verändern, und es sollten noch viele ernste und bedeutende Dinge geschehen, ehe ich elf wurde. Den Anfang machte Doña Elena, die mir Anfang Oktober eröffnete, dass sie mir nichts mehr beibringen könne.
    »Was?«, fragte ich, als hätte ich nicht richtig gehört, und als sie meinen offenen Mund sah, musste sie lächeln.
    »Ich meine Maschinenschreiben und Stenographie natürlich.« Ich schloss den Mund wieder, und sie lächelte erneut. »Du beherrschst die Technik und schreibst sehr schnell und sehr gut. Wenn du willst, sollten wir uns in diesem Monat auf die Prüfung vorbereiten. Señorita Rosa kennt jemanden in einer Schule in Jaén, der bereit wäre, dich umsonst zu prüfen. Du würdest keinen Abschluss als Sekretär erhalten, das nicht, das brauchst du ja auch gar nicht, aber ein Diplom in Schreibmaschinenschreiben und Stenographie. Nicht dass ich glaube, es würde dir in deinem Alter viel helfen, aber Diplome können nie schaden. Dein Vater wird froh sein und kann sich davon überzeugen, dass du bei mir etwas gelernt hast, und ich kann in Ruhe fahren.«
    »Wohin denn?«
    »Nach Oviedo.« Sie verzog das Gesicht zu einer Grimasse, die ich nicht deuten konnte; es war ein komplexer Ausdruck von Traurigkeit, Unlust, Pflichtbewusstsein und Resignation. »Du weißt ja, dass ich dort eine Tochter habe und vier Enkel, die ich nicht einmal kenne. Auch Elena kennt ihre Cousins nicht, deshalb … Früher oder später hätten wir ohnehin dorthin gemusst, schließlich bin ich ihre Mutter und werde es immer bleiben, und … Du weißt ja, wie es ist, wenn ein Bürgerkrieg Familien entzweit, nicht?«
    Ich nickte, vertat aber keine Sekunde damit, zu sagen, was ich wusste, denn nicht einmal meine eigene Familientragödie ängstigte mich so sehr wie die Möglichkeit, Doña Elena zu verlieren.
    »Dann …« – ihre Bücher, ihren Unterricht, ihre Geschichten – »dann ziehen Sie also jetzt nach Asturien?«
    »Nein, nein.« Sie lachte, als fände sie das Ganze irgendwie lustig. »Ich bleibe höchstens einen Monat. Meine Tochter wollte, dass ich Weihnachten mit ihnen verbringe, aber …« Dann wurde sie ernst und sagte etwas, das mich mehr berührte, als ich je gedacht hätte. »Das werde ich nicht tun. Anfang Dezember will ich zurück sein. Mittlerweile gehöre ich hierhin. Jetzt seid ihr meine Familie.«
    In diesem Possessivpronomen hatte so vieles Platz, dass ich mir einbildete, sie nicht enttäuschen zu dürfen, nachdem ich es gehört hatte. Mir bedeutete dieses Diplom noch weniger als ihr, dennoch bereitete ich mich so gut es ging auf die Prüfung vor, lernte die Rechtschreibung einer langen Liste von schweren Wörtern auswendig und gab mir Mühe, alle Eselsbrücken zu behalten, die sie mir mit einem Diktat nach dem anderen beigebracht hatte. Doña Elena wollte mich nicht nach Jaén begleiten. Sie sagte, es sei besser, wenn Vater mich hinbrächte. Ich vermisste sie so sehr, als ich mich der Prüfung stellte, die viel leichter war, als ich gedacht hatte, dass ich gleich nach der Rückkehr im Dorf zum alten Häuschen hinauflief, um ihr zu berichten.
    »Fertig! Sie haben meine Arbeit sofort durchgesehen und gesagt, ich

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