Der Feind
Chesapeake Bay.«
»Das tun sie auch, aber wir wissen nicht genau, wo, und es wäre dumm, wenn wir einfach so anfangen würden, herumzusuchen. Wenn er hört, dass sich Fremde nach ihm erkundigen, wird er seinerseits anfangen, nach uns zu suchen.«
Seine Erklärung klang einleuchtend. »Aber warum müssen wir in die Innenstadt?«
»Weil sie dort arbeitet. Wir checken erst einmal im Hotel ein, gehen gut essen, und dann lieben wir uns und schlafen uns aus.«
»Und morgen?«
»Da machen wir ein wenig Sightseeing. Wir lassen den Wagen verschwinden, und wenn alles gut geht … dann folgen wir ihr nach Hause.«
26
WASHINGTON D.C.
Sie hatten sich im Capitol Grill, einem ihrer Lieblingsrestaurants, verabredet. Dort zu essen war, wie Rapp es nannte, »absolut kugelsicher«. Sie hatten schon so manches ausprobiert und waren noch nie enttäuscht worden. Das Restaurant war bei Fisch genauso verlässlich wie bei Fleischgerichten, was auch wichtig war, weil Anna meistens Fisch aß, während er Steak bevorzugte.
Rapp war pünktlich, doch sie verspätete sich wieder einmal, woran er sich einfach nicht gewöhnen konnte. Immer wieder diskutierten sie über ihre mangelnde Pünktlichkeit und waren deshalb auch schon einige Male recht heftig aneinandergeraten. Er hätte sich auch unter normalen Umständen nur schwer damit abfinden können, aber ihre Beziehung war alles andere als normal. Sie war eine bekannte TV-Korrespondentin, die mindestens einen aufdringlichen Brief pro Woche erhielt, was in ihrem Geschäft wohl auch nichts Ungewöhnliches war. Die Briefe stammten wahrscheinlich von alleinstehenden Männern im mittleren Alter, die an irgendeinem Mutterkomplex laborierten, von kranken Typen, die sich daran auf geilten, ihre schmutzigen Gedanken zu Papier zu bringen. Jede attraktive Frau, die im Fernsehen auftrat, musste auf die eine oder andere Weise mit diesem Problem fertig werden. Das Gute war, dass neunundneunzig Prozent dieser Perversen nie über das Stadium des Briefeschreibens hinauskamen. Das restliche Prozent war zwar ein wenig beunruhigend, aber auch diese Leute waren nicht der eigentliche Grund von Rapps Sorgen.
Rapp war ein Mann, dem viele nach dem Leben trachteten. Islamische Geistliche hatten schon Fatwas ausgesprochen, in denen sie seinen Tod forderten. Allein das schon schürte seinen Hass auf Leute wie Khalil, die sich nie selbst die Hände schmutzig machten, aber andere zum Töten anstifteten. Diese jungen Menschen, die von Typen wie Khalil aufgehetzt wurden – sie waren es, die Rapp jedes Mal Sorge bereiteten, wenn Anna sich verspätete.
Die reizende Anna Rielly war eine Frau der Kontraste. Hinter den feinen Gesichtszügen und den wunderschönen grünen Augen verbarg sich die Tochter eines Polizisten in Chicago, die einiges miterlebt hatte. Anna war mit vier Brüdern aufgewachsen, von denen drei in die Fußstapfen ihres Vaters getreten waren. Der vierte Sohn war Anwalt geworden und stellte ebenso wie Anna eine Art Gegengewicht zur restlichen Familie dar. Die drei Brüder, die sich für den Beruf des Polizisten entschieden hatten, nannten Anna und den Anwalt manchmal den Feind. Ihrem irischen Temperament entsprechend, waren die politischen Debatten innerhalb der Familie oft recht hitzig, was ihrer Liebe zueinander keinen Abbruch tat.
Die bisweilen etwas raue Jugend in der South Side von Chicago hatte Anna eine gewisse Zähigkeit verliehen. Sie verlor nicht gern, und dementsprechend gab sie nie auf – eine Kombination, die für eine Reporterin recht hilfreich sein konnte. Rapp versuchte ihre natürlichen Instinkte noch zu schärfen, damit sie auch imstande war, zu erkennen, wenn ihr Ärger drohte, bevor es zu spät war. Sie machte sich manchmal über ihn lustig, weil er ihr sogar ein Diktaphon gekauft hatte, sah aber schließlich den Nutzen des Gerätes ein. »Wenn du glaubst, dass dir jemand folgt«, hatte er ihr gesagt, »dann nimm das Kennzeichen auf, und ich überprüfe es.« Sie hatte gesehen, dass auch Rapp selbst das mindestens einmal die Woche tat. Er brachte ihr außerdem bei, wie man mit Pistole und Schrotflinte umging.
Sie war mit beidem ziemlich gut. Nachdem sie ein Neuling auf dem Gebiet war, gab es auch keine schlechten Angewohnheiten, die sie zuerst ablegen musste. Im Gegensatz zu den meisten Männern hielt sie die Waffe nicht so, als wolle sie sie erwürgen, und sie drückte den Abzug ruhig und gleichmäßig. Es war jedoch schwer zu sagen, wie gut sie ihre Sache im Ernstfall machen würde.
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