Der Feind
saftigen Steaks verzehrte und die andere Hälfte für seinen Hund Shirley einpacken ließ. Der Kellner kam mit der Dessertkarte, und zu Rapps Überraschung nahm Anna sie entgegen. Sie aß sonst nie einen Nachtisch. Nachdem der Kellner weg war, zog er sie damit auf, und sie gab sich geheimnistuerisch. Rapp ging nicht weiter darauf ein und fragte nach den O’Rourkes, mit denen sie befreundet waren. Anna erzählte voller Stolz, wie süß der kleine Junge der beiden, ihr Patensohn Gabriel Seamus O’Rourke, war.
»Ich habe heute mit Liz und dem kleinen Gabe zu Mittag gegessen.« Sie schloss die Augen und atmete tief durch die Nase ein. »Der Kleine ist einfach zum Anbeißen.«
Rapp lächelte. Liz O’Rourke und Anna hatten an der University of Michigan zusammen Journalistik studiert und standen sich seither sehr nahe. Sie telefonierten täglich und kicherten oft wie Schulmädchen, wenn sie zusammen waren. Anna nahm den kleinen Gabe jedes Mal in die Arme, wenn sie ihn sah. Rapp begnügte sich damit, den Kleinen anzusehen; es war nicht so, dass er Babys nicht mochte, aber sie waren in diesem Alter gar so klein und zerbrechlich. Wenn er seine Frau mit dem Baby beobachtete, kam es ihm jedenfalls so vor, als würde so etwas wie ein Mutterinstinkt in ihr wach werden. Rapp hatte sie geradeheraus gefragt, ob der Zeitpunkt für sie gekommen war, und sie hatte ohne zu zögern geantwortet: »Noch nicht. Bald, aber jetzt noch nicht.«
Der Nachtisch kam – ein Berg von Schokolade mit Eiscreme oben drauf. Das Ding musste über 2000 Kalorien haben. Rapp sah staunend zu, wie seine Frau zulangte. Nach drei Bissen legte sie den Löffel nieder und sagte: »Ich habe übrigens wichtige Neuigkeiten.«
Rapp zuckte zusammen. Bitte, sag mir jetzt nicht, dass sie dich befördert haben und du nach New York kommst.
»Willst du raten?«
»Du bist befördert worden.«
»Nein«, erwiderte sie lächelnd. »Ich bin schwanger.«
Rapp sah sie einige Augenblicke sprachlos an. Soweit er wusste, nahm seine Frau die Pille.
»Ich weiß«, sagte sie, seinen Gesichtsausdruck lesend, »aber ich habe den Test zweimal gemacht, außerdem kommt die Regel nicht.«
»Aber wie ist das möglich?«
Sie zuckte die Achseln. »Auf der Packung steht ja ›zu neunundneunzig Prozent sicher‹. Ich schätze, wir fallen in das eine Prozent.«
Sie hatten fast von dem Tag an, als sie sich kennenlernten, über Kinder gesprochen. Sie wünschten sich beide mindestens zwei, aber Anna hatte es nicht eilig. Es gab bestimmte berufliche Dinge, die sie zuerst noch machen wollte. Rapp sah sie zurückhaltend an: »Ist es okay für dich?«
»Aber natürlich! Machst du Witze?«
Er stieß einen erleichterten Seufzer aus.
»Und du – ist es für dich okay?«, fragte sie zögernd.
Rapp blickte in ihr engelhaftes Gesicht und sah, dass sie sich wegen seiner Reaktion Sorgen machte. Er streckte die Hand aus und legte sie zärtlich an ihr Gesicht. »Ich könnte überhaupt nicht glücklicher sein.«
27
WIEN, ÖSTERREICH
Abel saß still an seinem Schreibtisch und blickte aus dem Fenster. Er betrachtete das Parlamentsgebäude mit der Statue der Pallas Athene, der griechischen Göttin der Weisheit und des Krieges. Wie sich doch die Menschheit in nur einem Jahrhundert geändert hat , dachte er. Er kannte heute keine Gesellschaft, die Weisheit mit Krieg in Zusammenhang brachte, geschweige denn, eine Statue zu Ehren einer Kriegsgöttin errichten würde. Abel blickte nachdenklich auf die griechische Göttin hinunter. Wo würde das alles hinführen?, fragte er sich.
Große Kulturen kamen und gingen wie die Gezeiten. Die Ägypter, die Inkas, die Mayas, Griechen, Perser, Römer, das Reich der Mongolen, das Osmanische Reich – sie alle waren nach einer gewissen Zeit wieder verschwunden. Die österreichisch-ungarische Monarchie, das britische Empire, die Sowjetunion und auch Nazi-Deutschland würden irgendwann nur noch Fußnoten der Weltgeschichte sein. Wer wusste schon, was auf die Amerikaner wartete? Die andere Supermacht, die Sowjetunion, hatte mit ihrem großen Experiment des Kommunismus nicht einmal ein Jahrhundert überdauert – nach historischen Maßstäben nicht mehr als ein Augenblick. Abel schätzte, dass auch Amerikas Vorherrschaft in der Welt höchstens noch hundert Jahre dauern würde. Es gab in dem Land zu viele Rechte und zu großen Wohlstand. Es wurden zu wenig Opfer gebracht. Die Leute waren einfach zu selbstsüchtig. Die Weltgeschichte war immer schon geprägt worden von
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