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Der fernste Ort

Titel: Der fernste Ort Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniel Kehlmann
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sie erst heute morgen zu suchen begonnen, jetzt ungefähr würden sie seine Kleider finden, seine Schuhe, die Brille vor allem, dann würde der Rezeptionist sich erinnern und erzählen, daß er ihn noch gewarnt hatte. Sie würden seine Zimmertür öffnen und sein Gepäck, dieBrieftasche und den Paß finden. Dann würden sie Boote ausschicken und die ganze Fläche des Sees nach ihm absuchen; es war sinnlos, aber es wurde immer getan, die Versicherungen verlangten es.
    Der Wagen bremste und bewegte sich nicht mehr, sie standen im Stau. Die Summe auf dem Taxameter war schon sehr hoch. Der Fahrer hatte plötzlich eine Zigarette im Mund und sah Julian im Rückspiegel an. Julian sah ihn an, er sah weg, Julian sah weg, der Fahrer sah ihn an. Der Rauch hing grau über ihren Köpfen. Julian sah wieder hin, der Fahrer sah weg.
    »Würden Sie bitte nicht rauchen?«
    »Natürlich!« Der Fahrer rührte sich nicht, seine Finger schlugen im Takt einer unhörbaren Melodie auf das Lenkrad, er machte keine Anstalten, die Zigarette loszuwerden.
    »Lassen Sie mich aussteigen!« sagte Julian
    »Was?«
    »Ich steige aus.«
    »Gut«, sagte der Fahrer gleichgültig. »Bitte!« Julian warf einen Geldschein auf den Beifahrersitz, öffnete die Tür und sprang auf die Straße. Er blickte sich um, der Fahrer hatte das Fenster heruntergekurbelt und sah ihm nach; er schnippte dieZigarette weg, und sie flog in weitem Bogen davon. Julian ging schneller, dann noch schneller, dann begann er zu laufen. Etwas war anders als sonst, etwas Wichtiges, aber er wußte nicht was. Und erst nach einer Weile begriff er, daß es schneite.
    Wirklich: Winzige Flocken, die nicht liegenblieben, die sich auflösten, sobald sie den Boden berührten, schon nach wenigen Sekunden nahm man sie nicht mehr wahr. Und dort war schon seine Straße, sein Haus, die Fenster seiner Wohnung im zweiten Stock. Er stieß die Haustür auf und lief mit gesenktem Kopf die Treppe hinauf, seine Schritte kamen ihm viel zu laut vor. Er durfte auf keinen Fall einem Nachbarn begegnen!
    Als er die Wohnungstür aufschließen wollte, fiel der Schlüsselbund mit einem bösartigen Klirren zu Boden, im Stockwerk über ihm öffnete und schloß sich eine Tür, er begann zu schwitzen. Er verfehlte das Schloß von neuem, der Schlüssel rutschte ab, er zwang sich, tief ein und auszuatmen, wie gestern im Hotel. Dann gelang es, der Schlüssel drehte sich, die Tür ging auf.
    Er horchte. Hatte er etwas gehört? Plötzlich kam ihm der Verdacht, daß er nicht allein war, daß jemand hier auf ihn wartete. Er machte einenSchritt in den Flur, der Fußboden knackte, noch einen. Im Wandspiegel zeichnete sich seine Gestalt ab, der Schrank hinter ihm, zwei schief hängende Bilder. Er ging ins Wohnzimmer.
    Der Fußboden knackte. Im Spiegel bewegte sich sein Abbild, er sah einen Schrank und zwei Bilder in bräunlichen Rahmen, beide hingen schief; er war immer noch im Flur. Die Verwirrung nahm ihm den Atem. Er riß, noch einmal, die Tür zum Wohnzimmer auf …
    Tatsächlich, das Wohnzimmer. Aber es schien größer als sonst, länglich und verkrümmt. Die verschwommenen Flächen von Sofa und Stuhl, der Tisch, die an der Decke pendelnde Lampe; wieso bewegte sie sich? Wieder schien es ihm, als ob er etwas wahrgenommen hatte, aber eigentlich war es kein Geräusch gewesen, eher eine Bewegung in der Stille selbst. Von der Straße war nichts mehr zu hören.
    Er zwang sich weiterzugehen. Wieder knackte es im Fußboden, vermutlich ein Dielenbrett. Nur gab es hier keine Dielenbretter. Er kniff die Augen zusammen und konzentrierte sich auf den Schrank, die zweite Schublade von oben. Als er auf ihn zuging, machte der Schrank einen schwachenVersuch zurückzuweichen. Aber Julian war schneller, bekam die Schublade zu fassen, riß sie auf und tastete nach seiner Ersatzbrille. Er fand sie und setzte sie auf. Für eine Sekunde geschah nichts. Dann wichen die Gegenstände zurück, schrumpften in ihre alten Konturen, ins matte Licht seiner Wohnung, wie er sie kannte.
    Und es war alles noch da. Tisch und Schrank, der Teppich, der Stoß mit den Fotokopien von Formularen aus dem Büro, der Papierkorb, nicht geleert vor seiner Abreise, voll von bekritzeltem Papier, der schon verblichene Stoffbezug der Couch, daneben der grüne Stapel der noch übrigen Exemplare von Vetering: Person, Werk und Wirkung , die er vor einem Jahr dem Verlag abgekauft hatte, damit sie nicht eingestampft wurden. Er fühlte sich wie ein Eindringling, jemand, der hier

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