Der fernste Ort
wußte jetzt, daß er Kronensäulers Angebot ablehnen würde. So billig würde er es nicht machen; jetzt noch nicht! An seinemrechten Schuh waren die Bänder offen und schleiften nach, aber er kümmerte sich nicht darum. Ein Mann trat aus einem Supermarkt und warf ihm einen leeren Blick zu. Ein kaum merklicher Nieselregen hatte eingesetzt, er sog die Luft ein. Nun also doch: Er würde entkommen. Das Gefängnis verlassen, hinausgehen, und niemand konnte ihn zurückhalten. Die alten Seekarten fielen ihm ein, die Drachen, Ultima Thule , der fernste Ort.
Er läutete, sofort öffnete sich die Tür, und Clara stand vor ihm. Sie war blaß, ihre Haare waren unordentlich, und für einen Moment – aber sofort erschrak er über sich selbst – fragte er sich, was ihm je an ihr gefallen hatte. Dann bemerkte er ihren Gesichtsausdruck.
»Was ist denn?«
Ihre Blicke trafen sich, ihm wurde heiß. Auf dem Gartenzaun landete ein zerzauster Spatz, starrte ihn aus seinen Nadelknopfaugen an, machte einen kleinen Sprung und flatterte davon, nicht ahnend, daß er für immer in Julians Gedächtnis bleiben würde. Wie auch das Dach des Nachbarhauses, sein gerader Schornstein, das Blech der Regenrinne und der Gesichtsausdruck eines vorbeigehendenMannes mit Trenchcoat, Hut, Spazierstock und Aktentasche.
»Bitte!« sagte er heiser. »So schlimm kann es doch nicht sein!«
III
Ihm war, als hätte er noch nie so tief geschlafen. Julian erinnerte sich nur noch vage an den Bus, der gestern auf der Straße neben ihm gehalten hatte, an das freundliche Gesicht des Fahrers, seine einladende Handbewegung. Das war Glück gewesen, denn zu Fuß hätte er es nicht bis zum Bahnhof geschafft, es war viel weiter, als er vermutet hatte. Schließlich war er ausgestiegen, taumelnd vor Müdigkeit, hatte eine alte Frau angerempelt, sich entschuldigt und bemerkt, daß er die feuchte Badehose noch unter dem Arm trug, das wichtigste Beweisstück, sie mußte verschwinden; er schleuderte sie nach etwas, das wie ein Abfallbehälter aussah. Es war nicht leicht, den richtigen Schalter zu finden, wenn man nur verschwommen sah: ein Beamter verkaufte ihm eine Fahrkarte. Dann saß er auf einer Bank und sah dem Hin und Her der Menschen und den Fliegen zu, die zugleich winzig über die Lampen und als ins Riesenhafte vergrößerte Schatten über den Boden krabbelten. Der Zug kam, er stieg ein, setzte sich aufeinen freien Platz, wurde von einer Frau, die reserviert hatte, vertrieben, fand einen anderen, und der Ruck des Anfahrens drückte ihn in die weiche Polsterung. Ein Schaffner, bloß eine Silhouette, körperlos und bläulich, prüfte seine Fahrkarte, Julian fragte ihn nach der Uhrzeit, es war kurz nach halb zehn. Der Schaffner ging weiter und kam nach ein paar Sekunden zurück, um ihm zu sagen, daß sie gleich da sein würden; Julian schüttelte den Kopf und wollte fragen, was das sollte, aber plötzlich war es vor den Fenstern hell – wachsende und schrumpfende Hügel, vorbeischnellende Häuser, ein bleicher Morgen im Herbst –, und als er seinen Nachbarn, der auf einmal ein anderer war, nach der Zeit fragte, erfuhr er, daß es halb zwölf war. Mittags? Jawohl, mittags. Und da setzte sich schon der Bahnhof zusammen, Glasscheiben und Plakate und Gepäckwagen; er riß die Tür auf und sprang hinaus, noch bevor der Zug ganz zum Stillstand gekommen war. Und hier stand er und blickte um sich und begriff noch kaum, daß er wirklich am Ziel war.
Am Ziel. Seine Glieder schmerzten immer noch, vom schnellen Aufstehen war ihm schwindlig. Die Rolltreppe brachte ihn in die große Halle. Lärmund Menschen, der Geruch von Pizza und Bratfett und dort oben, nicht lesbar ohne Brille, die Tafel mit den Abfahrtzeiten; die Frauenstimme aus dem Lautsprecher war vielleicht noch die gleiche wie damals – aber nein, das war nicht möglich, Fahrpläne änderten sich, die Aufnahmen mußten regelmäßig erneuert werden. Er wandte sich zum Ausgang, trat jemandem auf den Fuß, entschuldigte sich, die Glastüren glitten auseinander, und er stand im Freien.
Es war kalt und windig. Er hob die Hand, und Sekunden später bremste ein Auto vor ihm; er sah es nur unscharf, aber der Farbe nach mußte es ein Taxi sein. Er trat darauf zu, öffnete die Tür des Wagenschlags und setzte sich. Der Geruch der Ledersitze, Aufkleber mit Ziffern neben dem Armaturenbrett, das schnurrbärtig runde Gesicht des Fahrers. Es war wirklich ein Taxi.
Julian nannte seine Adresse, der Fahrer nickte. Wahrscheinlich hatten
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