Der fernste Ort
schwer, wieder aufzuhören; etwas in ihm wollte sich nicht davon lösen. Er dachte an die Versicherung, an seinen neuen Vorgesetzten.
Wöllner war klein, glatzköpfig, intelligent und böse; Julian hatte von Anfang an das Gefühl gehabt, daß er ihn nicht mochte. Bei ihrem ersten Gespräch hatte Wöllner hinter dem übergroßen Schreibtisch in seinem abgedunkelten Büro gesessen, dessen wirkliche Ausmaße man nicht abschätzen konnte, weil seine hinteren Bereiche sich im Schatten verloren. Er hatte sich zurückgelehnt, die Hände hinter dem Kopf gefaltet, die Knie an sich gezogen und mit lauernder Stimme gesagt: »Mein Lieber, ich bin nicht sicher …« Er wartete ein paar Sekunden, als müßte er nachdenken. »Nicht ganz sicher, ob Sie hierhergehören, verstehen Sie?«
Julian schwieg. Er verstand genau. Aber er blickte zu Boden und tat, als begriffe er nicht. Wöllner zuckte die Achseln. »Na gut«, sagte er melancholisch, »wie Sie meinen! Ihr Bruder genießt ja großes Vertrauen bei uns. Sie werden sich einarbeiten, es ist nicht schwer, eigentlich tun wir hier nichts … Besonderes. Mahlhorn zeigt Ihnen alles. Und grüßen Sie Ihre Frau!«
»Ich bin nicht verheiratet.«
»Nun, wie auch immer.« Wöllner beugte sich vor, und plötzlich schienen, aber vielleicht war das eine Täuschung, seine Augen schwach aufzuleuchten. Julian bemerkte einen Globus auf seinem Tisch, eine Halterung mit einer teuren Füllfeder, daneben eine kleine Kugel aus Bernstein.
Ihm wurde ein Schreibtisch zugewiesen, ein Computer, ein Telefon und Papierstöße, über deren Bestimmung er sich auch nach Wochen nicht klarwerden konnte. Es waren Berichte von menschlichen Unfällen, Mißgeschicken, Katastrophen, eingefaßt in Berechnungen: Wie viele Leben es dort draußen auch geben mochte, zielstrebig folgten sie den Vorgaben der Mathematik. Einundfünfzig Prozent der Ehepaare würden Kinder haben, vierzig Prozent sich wieder trennen, und zwarim Alter zwischen siebenunddreißig und vierzig. Und bevor das Jahr um war, würde ein Prozent derer, die heute lebten, gestorben sein; davon vier Prozent an Unfällen – im Auto, durch elektrischen Strom, beim Schwimmen –, vierundzwanzig Prozent an Krebs, vierundfünfzig Prozent an krankem Herzen. Was auch immer jeder einzelne entschied oder plante, in diesen Berechnungen stand alles fest.
»Woran liegt es?« fragte Julian, »daß die Ergebnisse nie auffällig abweichen?«
»Bitte?« Sein Kollege Mahlhorn sah ihn ausdruckslos, mit fettigen Lippen an. Sie saßen in der Kantine, es roch nach Essen, zwischen ihnen standen zwei halbvolle Suppenteller.
»Ich meine, wenn alles Zufall ist und sich ändern kann … Ich meine, es könnte sich doch ändern, oder?«
»Natürlich.« Mahlhorn tastete nach seiner Serviette.
»Warum passiert es dann nicht? Wenn jedes Leben zufällig ist, warum verdoppelt sich die Summe der Autounfälle nicht oder halbiert sich? Ich meine, einmal nur, ganz plötzlich, ohne besonderen Grund?«
»Statistik«, sagte Mahlhorn. »Wenn sie richtig ist, stimmen auch die Voraussagen.«
»Aber es ist doch nicht zwingend , daß sie stimmen!«
»Wenn die Anzahl der Daten gegen unendlich geht …«, Mahlhorn wischte sich umständlich den Mund ab, »… nähert sich das Durchschnittergebnis dem Erwartungswert.« Er ließ die Serviette fallen.
»Aber warum halten wir uns daran? Sie und ich und jeder? Verstehen Sie, was ich meine?«
»Also, um ehrlich zu sein …« Mahlhorn schwieg einen Moment. Dann schob er seinen Stuhl zurück und griff nach dem Tablett. »Ich habe nicht die geringste Ahnung!«
Über seinen Schreibtisch hängte Julian das bekannte Porträt von Vetering mit seiner übergroßen, schon zur Entstehungszeit altmodischen Perücke. Eine Weile ging das gut, aber dann machte Mahlhorn abfällige Bemerkungen darüber, und Julian wurde klar, daß es unmöglich war, unter diesem Blick, dieser gerunzelten Stirn und der konzentrierten Aufmerksamkeit dieser Augen irgendeiner Arbeit nachzugehen; er hängte es wieder ab und lehnte es umgedreht gegen die Wand. Unterdessenstand seine Tür halb offen, hin und wieder sah er Andrea mit einem Aktenstoß vorbeigehen. Manchmal wandte sie ihm für einen Augenblick den Kopf zu und war schon weitergegangen, bevor sein Blick den ihren erwidert hatte; dann lächelte er, griff nach seinem Plastikkugelschreiber und war mit einem Mal beinahe zufrieden. Schon lange hatten ihr Blick, die Rundung ihrer Schultern und der Wunsch, seine Hand auf ihren über
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