Der fernste Ort
den Tisch gebeugten Nacken zu legen ihn bis in seine seltenen Träume verfolgt. Es dauerte noch ein paar Wochen, bis er sie ansprach. Bald darauf fuhren sie für ein Wochenende in eine Pension auf dem Land.
Zwei Tage lang gingen sie durch wechselnde Wälder, fuhren auf einem schmutzigen See Boot und betrachteten den Nachthimmel. Ein Foto wurde aufgenommen, auf dem sie unbehaglich lächelnd vor einem verwischten Hintergrund standen. Die Abende waren lang, und es gab wenig zu reden. Nachts träumte er farbig und wirr, morgens lärmten Kinder im Frühstückszimmer, zwischen bestickten Tischdecken und leicht angegrauten Sofakissen. Zu seiner Überraschung war er erleichtert, als sie wieder nach Hause fuhren.
»Kommst du morgen?« fragte sie.
»Wohin?«
Sie antwortete nicht.
»Ach so«, sagte er, »entschuldige! Natürlich komme ich.«
Es war ein heller Tag, der Wind strich durch die Fenster seines neuen Autos. Er hatte es vor kurzem gekauft; er hatte dafür einen neuen Kredit aufnehmen müssen, aber der zuständige Herr in der Bank war so entgegenkommend gewesen wie immer. Andrea empfing ihn an der Tür. Auf den ersten Blick hätte er sie kaum erkannt; sie kam ihm schmaler vor, ihr Gesicht bleicher als noch am Tag zuvor, als hätte sie sich mit einer weniger interessanten Zwillingsschwester vertauscht. Ihre Wohnung bestand aus zwei schlecht beleuchteten Zimmern, die nach Räucherstäbchen rochen; an der Wand hingen überladen abstrakte Bilder, schwere Farbflächen, signiert in unleserlicher Schrift. Ein Papagei sprang ihm auf die Schulter und knabberte mißmutig an seinem Ohr.
»Das ist Claudio«, sagte sie.
Er nickte, sah ihr ins Gesicht, wieder erkannte er sie für einen Moment nicht. Auf dem Eßtisch brannte eine Kerze, die immer wieder ausging und neu angezündet werden mußte. Als sie kurz daraufim Bett lagen und er ihren dünnen Körper unter sich fühlte, hing plötzlich das krächzende Husten eines alten Mannes neben ihnen. Sie sagte ruhig »Claudio, sei still!«, dann umarmte sie ihn wieder und murmelte etwas, das er nicht verstand, und er beschloß mit solcher Festigkeit, daß dies ein Traum sein mußte, daß er es wirklich zu glauben begann, als er wieder im Auto saß und zusah, wie Fassaden sich errichteten und versanken, wie Leuchtschriften sich übereinanderlegten, wie Schaufenster aufblitzten und erloschen, und daß er fast schon davon überzeugt war, als er eine halbe Stunde später in sein eigenes Bett sank.
Am nächsten Tag hätte er fast Wöllners Geburtstagsfeier versäumt. Auf dem Weg verfuhr er sich, und so kam er als letzter. Es war eine mittelgroße Villa in der Vorstadt, auf dem Rasen standen pummelige Gartenzwerge mit Schubkarren und Schaufeln, ein gußeisernes W streckte sich schief über das Gartentor. Beklommen trat er ein und blickte in Mahlhorns spitzes Gesicht.
»Oh! Aber besser spät als nie.«
»Manchmal«, sagte Julian, »gilt auch das Gegenteil.«
»Wieso?«
»Nichts. Ich meinte nur …« Er stockte, aber Mahlhorn sah ihn ernst und fragend an. »… Manchmal ist es auch besser, man kommt gar nicht. Nur ein Scherz!«
»Aber so heißt es nicht!«
»Ich weiß.« Julian rieb sich die Augen. »Ich meinte nur … Ich weiß das!« Er tastete nach der Wand und fand sie nicht, er blickte um sich; niemand, den er kannte, war zu sehen. »Ich meinte nur … daß man … manchmal sagen könnte …«
»Aber so heißt es nicht!« Mahlhorn rückte seine Krawatte zurecht.
»Glauben Sie«, fragte Julian heiser, »ich könnte ein Glas Wasser bekommen?«
Mahlhorn war rot geworden. Auf seiner Stirn zeichneten sich Falten ab. »Wir sehen uns!« murmelte er, trat zurück und verschwand in der Menge. Julian nahm seine beschlagene Brille ab und putzte sie mit einem Zipfel seines Jacketts.
Er sah sich um. Männer mit Ohrringen, Frauen mit Fischaugen, ein alter Mann mit grüner Brille nickte ihm zu, er kannte ihn nicht, doch er nickte ebenfalls; von irgendwo waren die Klänge eines Klaviers zu hören, eine dürre Frau begann in der Mitte des Raumes zu tanzen, aber keiner kümmertesich um sie. Jemand legte ihm eine Hand auf die Schulter, er erschrak, aber es war nur Andrea, die ihn zerstreut anlächelte; schon war sie wieder verschwunden. Julian griff nach einem Glas, an dessen Rand Lippenstiftspuren waren, doch es war ihm egal, er trank es aus und stellte es weg. Und dann stand Wöllner neben ihm, zog die Augenbrauen hoch und sagte: »Gute Nachrichten!«
»Bitte?«
»Wir fahren nach Italien,
Weitere Kostenlose Bücher