Der fernste Ort
Briefträger drei Kuverts mit Werbung in den Briefkasten fallen lassen. Das Gift betäubte die Glieder, hemmte die Bewegungen und wirkte erst dann, allerdings sehr schnell, auf den Geist. Was hatte sie als letztes gesehen: den Spiegel, das Telefon, den Teppich oder den Gerede ausspuckenden Lautsprecher? Natürlich wußte er das nicht, niemand wußte es, die Augen der Gestorbenen bewahren nichts, ihr Blick bricht wie ihr Bewußtsein, und wo eben noch ein Mensch war, ist schon Sekunden später nur eine Unschärfe, ein Zittern in der Luft, nichts mehr. Sie hatte das Glas noch abgestellt, allerdings nicht auf den Untersetzer aus Stoff, derseit Jahren zu diesem Zweck bereitlag; ihr einziges Zugeständnis daran, daß die Welt am Erlöschen war. Und der Briefträger war wohl pfeifend davongegangen, das Auto hatte seinen Parkplatz gefunden, der Nachbar den Rasenmäher abgestellt, und der Radioarzt hatte die Hörer ersucht, nächste Woche wieder einzuschalten. Nur der Rauch war weiter aufgestiegen, in wechselnden Gestalten, geformt vom stärker und schwächer werdenden Wind. Eine ganze Nacht war ihr Körper dort gewesen, in einem Haus, das leer war und doch nicht, und der Spiegel hatte keine Sekunde ihrer Reglosigkeit versäumt. Gegen sieben war es hell geworden, um halb elf war die Putzfrau gekommen, hatte ihre Handtasche abgestellt, eine Weile überlegt und dann bedächtig nach dem Telefon gegriffen.
»Aber es ist nicht deine Schuld«, sagte Clara.
»Natürlich ist es nicht meine Schuld!« Julian musterte sie. Sie sahen sich nur noch selten: Sie schien größer geworden, erwachsener, ihre Haare hatten eine andere Farbe, und jener Nachmittag, an dem es geregnet hatte oder auch nicht, schien ihm so fern, als hätte er ihn erfunden. »Wie kommst du darauf?«
»Ich weiß nicht!« Sie hob und senkte die Arme. »Ich dachte nur …!«
»Niemand hätte etwas ändern können«, sagte Julian. Er suchte Pauls Blick, aber der antwortete nicht. Er saß vor ihm, stützte den Kopf in die Hände und schien an etwas anderes zu denken.
»Entschuldige«, sagte Paul, »ich habe nicht zugehört!« Er warf Julian einen zerstreuten Blick zu, Clara sog hörbar die Luft ein, stand auf und ging aus dem Zimmer.
»Wir hätten es nicht ändern können«, sagte Julian.
»Wahrscheinlich nicht.«
»Das habe ich doch gesagt!«
»Und wie«, fragte Paul, »läuft es im Beruf?«
»Das ist nicht der Moment …«
»Natürlich nicht«, sagte Paul. »Entschuldige!«
»Nicht so gut. Ich werde meinen Posten verlieren.«
»Ohne ihn gäbe es keine Computer.«
»Ohne wen?«
Paul warf ihm einen langen Blick zu. »Vetering. Es gibt eine sehr wichtige Abhandlung von ihm, über die Möglichkeit einer universalen Zeichensprache, in der zum ersten Mal eine binäre Formalisierung vorgeschlagen wird. Diadik hieß das damals. Aber das weißt du natürlich.«
»Natürlich«, sagte Julian, ein wenig zu laut, weil er es nicht wußte. »Jedenfalls scheint es, daß ich ein paar Fehler gemacht habe. Nichts Wichtiges natürlich!«
Paul sah ihn an. Ein dünnes Lächeln spielte um seinen Mund. »Ich kenne jemanden in einer Versicherung. Es wäre nichts Großartiges, aber …«
»Ich bin schon versichert.«
»Ich meinte, daß du dort arbeiten sollst.«
»Bitte!« Julian räusperte sich. »Nicht jetzt!«
»Natürlich nicht«, sagte Paul, »natürlich nicht.«
»Aber schreib mir die Adresse auf!«
Von jetzt an war das Einschlafen noch schwerer. Das Bild seiner Mutter mit dem Wasserglas in der Hand entstand Abend für Abend neu aus der Dunkelheit. Dann schloß er die Augen und horchte auf das Ticken seiner Armbanduhr und die Geräusche der Straße. Nach einiger Zeit hörte er Stimmen, sehr nahe, doch gerade so leise, daß nichts zu verstehen war. Verzerrte Gedanken stiegen auf; so schien es ihm plötzlich vernünftig, daß man beim Rückwärtsgehen die Zeit mit sich nahm und daß zwei mal drei sowohl sechs ergab als auch neunundsiebzig oder zwölf, und er fühlte, wie er leicht wurde und leichter, und wie der Schlaf sich näherte… und zurückwich. Und er lag immer noch da, mit offenen Augen, wach. Draußen stieg ein fleckiger Mond auf, wanderte seine Bahn entlang, ließ die Sterne deutlicher und wieder blasser werden und sank, bis das Morgenlicht mit dem Lärm der Reinigungsfahrzeuge über die Dächer kletterte. Oft hatte er versucht zu zählen. Immer weiter, aufwärts. Aber es half nicht, und die Zahlen nahmen mit der Zeit etwas bedrohlich Fremdes an, es fiel ihm
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