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Der fernste Ort

Titel: Der fernste Ort Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniel Kehlmann
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ich für nichts garantieren. Kürzungen stehen bevor, Sie verstehen?«
    »Ja«, sagte Julian, »natürlich! Ich verstehe.« Er arbeitete so schnell er konnte, las nächtelang, füllte Seite um Seite mit Notizen und lernte die bleistiftkratzende Stille der Bibliotheken kennen. Er plünderte alte Bücher, fügte lange Zitate ein, bekritzelte kleine Zettel und erinnerte sich immer öfter nach dem Aufwachen an Menschen mit Perücken, Häuser mit Zinnen, verbrennendes Papier, eine Glaskugel, aus der ihn die runden Augen eines Insekts betrachtet hatten; es schienen die Träume eines anderen zu sein, auf rätselhafte Weise auf ihn übergegangen, er hätte am liebsten Ferien gemacht, aber dazu war keine Zeit. Er reiste in einen schwer erreichbaren Vorort von Den Haag, um Veterings Wohnhaus zu besichtigen.
    Der Zug war überfüllt und langsam, die Fahrt länger als erwartet. Er irrte eine Weile durch einander ähnliche Straßen mit immer gleichen rotgeziegelten Backsteinbauten, gardinenlosen, hohen Fenstern, fand den richtigen Bus, fuhr sieben Stationen, stieg aus und wartete eine halbe Stunde, bis das Museum öffnete.
    Er war der einzige Besucher, nicht einmal hier schien sich jemand für Vetering zu interessieren. Er ging langsam an den Glasvitrinen entlang undbetrachtete beschriebene Papierstücke – die Schrift war zunächst sehr ordentlich, erst in späteren Jahren schief und gehetzt, gegen Ende panisch –, Erstausgaben, Federkiele und eine kleine Lupe, von der das Gerücht ging, Spinoza hätte sie geschliffen. Vor dem Fenster war ein Parkplatz mit zwei Autos und einem abgekoppelten Anhänger, in die Platte des Schreibtisches hatte jemand Hey, Hallo! geritzt. Hier also hatte Vetering zwanzig Jahre gewohnt, hier war er auf und ab gegangen, hatte an der Oekonomie gearbeitet und sich auf seinen Spaziergängen, die Quellen bezeugten es, so unglaublich oft Gliedmaßen gebrochen, als wäre es ihm einfach nicht möglich gewesen, auf die Kanten, Schwellen und Widerstände der empirischen Welt Rücksicht zu nehmen.
    Eine Treppe führte in den ersten Stock. Das Schlafzimmer: ein kahler Raum, erfüllt vom Geruch nach Staub. Julian musterte beklommen das winzige Bett. In einer Vitrine lagen ein Notizblock, ein Abakus und ein rund geschliffenes Stück Bernstein. Er beugte sich vor: Es gab Sandkörner darin, erstarrte Wirbel, ein Stück Holz und eine Fliege, die zwei fein geäderte Flügel ausbreitete. Eine Weile betrachtete er sie, als müßte er sich anetwas erinnern. Dann wandte er sich ab und ging in das letzte Stockwerk hinauf.
    Es kostete ihn Überwindung, über die Schwelle zu treten. Außer einer schmalen Bank standen hier keine Möbel. Es kam ihm seltsam vor und nicht recht passend, daß man in diesen Raum durfte wie in jeden anderen. Er zögerte, dann setzte er sich auf die Bank.
    Gegen Ende hatte Vetering sich verändert. Forscher sprachen nicht gern darüber, Fachleute ignorierten es, Mediziner hatten ein paar Aufsätze publiziert; es ließ sich nicht viel damit anfangen. An einem verschneiten Winternachmittag hatte er einen Spaziergang gemacht, war gestolpert und einen niedrigen Hügel hinuntergerollt. Er war aufgestanden, hatte den Schnee von seinen Kleidern geklopft und war eilig nach Hause gegangen, wo er alle Ausgaben seiner Schriften sowie ein fast fertiges Manuskript, Das Universalprinzip des Handels, verbrannt hatte. In den nächsten zwei Jahren veröffentlichte er keine Zeile, verließ das Haus selten und wusch sich nicht mehr. Eine Abordnung von Professoren aus Amsterdam berichtete bestürzt von einem kleinen, unrasierten, unverständliche Laute ausstoßenden Männchen, das sie zunächstfür einen Einbrecher und dann für ein wunderliches Faktotum gehalten hatten. In dieser Zeit schrieb er seine lateinische Abhandlung Per Spaeculum , eine Schrift, deren Eleganz und scheinbare Klarheit auf das seltsamste dem offensichtlichen Wahnsinn ihres Verfassers widersprach, der etwa behauptete, daß ein Sterbender noch tagelang durch die allmählich unwirklicher werdende Welt seiner Einbildungen irren könne oder daß die fesselnde Kraft der Schwere keine Gewalt habe über den Geist eines freien Menschen. Um das zu demonstrieren, lud er einen Notar, zwei Astronomen und einen Landschaftsmaler als Zeugen ein und führte sie in das oberste Stockwerk seines Hauses. Dort war er auf die Sitzbank gestiegen (jawohl, auf diese, unwillkürlich stand Julian auf) und hatte eine Rede von unwirklicher Schönheit gehalten, vom Notar

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