Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Der fernste Ort

Titel: Der fernste Ort Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniel Kehlmann
Vom Netzwerk:
später aus dem Gedächtnis rekonstruiert, in der es um Leichtigkeit, Mut, die Verformbarkeit des Festen und die menschliche Freiheit ging; niemals brachte es Julian in seinem Büro oder im bedrängenden Weiß seiner Wohnung fertig, sie zu lesen, ohne daß ihm Tränen in die Augen traten. Dann war Jerouen Vetering, bedeutendster Universalgelehrter seiner Generation, Urheber der modernenStatistik, Briefpartner von Leibniz und Mitentdecker des Differentialkalküls, von der Bank gesprungen, hatte das Fensterbrett erklommen, die Arme ausgebreitet und sich abgestoßen. Eine Sekunde später war sein Kopf auf dem Straßenpflaster zerschellt.
    Julian stellte sich ans Fenster, sah auf den Parkplatz hinunter, trat schnell wieder zurück. Es war bezeugt, daß die vier Männer sich hinausgebeugt und eine Weile in den Himmel geblickt hatten, bevor einem von ihnen die Idee gekommen war, den Blick hinunter, auf den mit Blut und bräunlichen Flecken und Teilen von Gehirnmasse gesprenkelten Boden zu richten. Julian lehnte sich an die Wand, plötzlich fühlte er sich müde; er erinnerte sich an den Anblick eines zerteilten Körpers auf einem fernen Bahnhof. Sonnenstrahlen fielen schräg durch das Fenster, es war lange nicht geputzt worden, man sah deutlich die Schlieren. Und eine Fliege, die nicht anders aussah als die im Bernstein, schlug wieder und wieder und wieder mit einem dumpfen Geräusch gegen das Glas.
    Julian fuhr nach Hause und arbeitete weiter. Er tippte eine Seite nach der anderen, bis seine Augen so sehr schmerzten, daß er zu Bett gehen mußte. Erbegann zu rauchen, aber es gefiel ihm nicht, der stechend warme Geschmack kam ihm widerlich vor, und er hörte damit wieder auf. In nur zwei Nächten, mit einer Kanne Kaffee neben sich, mit zitternden Händen und zusammengebissenen Zähnen, schwindlig vor Langeweile und Erschöpfung, schrieb er die letzten vierzig Seiten über die Bedeutung der Oekonomie für die Entwicklung der modernen Risikokalkulation. Eine Woche später gab er Vetering: Person, Werk, Wirkung in Druck, grün gebunden, dreihundert Seiten lang, solide und unhandlich, erschienen im Verlag der Universität. Die Fachzeitschriften reagierten unnatürlich schnell. Ihre Besprechungen waren vernichtend.
    Eine sprach von »einer ermüdenden Kompilation«, eine andere von »einem weniger als mittelmäßigen Machwerk«, und die Studia Spinozana erklärten, daß »alles, was dieser Autor übersehen, mißverstanden oder vergessen hat, bereits ein eigenes Standardwerk ergäbe«. Eben diesen Artikel fand Julian am nächsten Morgen in seinem Fach, sorgfältig ausgeschnitten und versehen mit einem Fragezeichen in Kronensäulers dünner Schrift.
    Er zerknüllte das Blatt, warf es weg, nahm es noch einmal aus dem Papierkorb, und zerriß es. Er ging mit trockenem Mund und weichen Knien in sein Büro, setzte sich, kaute an einem Bleistift und starrte den Stoß von Prüfungsarbeiten an, die er bis übermorgen zu korrigieren hatte. Er rieb sich die Augen. Das Telefon läutete, doch er kümmerte sich nicht darum, um diese Zeit war es normalerweise nur seine Mutter. Wenigstens las sie die Studia Spinozana nicht. Wenigstens las niemand die Studia Spinozana! Das Telefon hörte nicht auf zu läuten; er seufzte, nahm den Bleistift aus dem Mund, griff nach dem Hörer, und eine unnatürlich gelassene Stimme teilte ihm mit, daß seine Mutter, aber bleiben Sie ruhig, daß seine Mutter, eine Mitteilung, die wir Ihnen machen müssen, daß also seine Mutter sich umgebracht hatte.
    Drei Packungen Schlaftabletten, in Wasser aufgelöst. Schon am Mittag zuvor, die Untersuchung der Leiche ergab es, hatte sie sich in den Lehnstuhl gesetzt, den in Julians Erinnerung immer noch sein Vater benützte, hatte die Füße auf den Teppich gestellt, auf dem einst seine Spielsachen zu unheimlichem Leben erwacht waren, hatte das Radio eingeschaltet – aber es lief nur eine Gesundheitssendung,in der ein Arzt Ratschläge gab – und dann Schluck für Schluck, wie man es tun mußte, das Glas geleert. All das mußte etwa zwanzig Minuten gedauert haben, nicht mehr, soviel wußte jedes Medizinlexikon. Julian versuchte, sie sich dort vorzustellen, wartend, während der große Wandspiegel zum letzten Mal ihr Bild festhielt; aber aus irgendeinem Grund fielen ihm nur unpassende Einzelheiten ein, sinnlos und nicht zu überprüfen. Vielleicht hatte ein Nachbar seinen Rasen gemäht, aus einem Schornstein war Rauch gestiegen, ein Auto hatte einen Parkplatz gesucht und der

Weitere Kostenlose Bücher