Der Feuerstein
den verkrusteten Krater einer leeren Augenhöhle. Er
sieht mich mit dem verbliebenen Auge von der Seite an, und ich stöhne auf.
Es ist Belén.
»Oh Gott«, flüstere ich und schlage mir die Hand vor den Mund. »Belén, was ist mit dir geschehen?«
Er atmet keuchend aus. »Elisa.« Seine Schultern beben. Vielleicht schluchzt er auch. »Elisa, ich bin gekommen, um dich zu warnen …« Sein Auge schließt sich, und ich weiß nicht zu sagen, ob vor Schmerz oder weil er versucht, sich zu konzentrieren. Er holt tief Luft und setzt noch einmal an. »Dich zu warnen. Kehre zum König zurück. Verlasse das Dorf. Bevor dich die Animagi finden.«
Der Feuerstein wird bei seinen Worten warm. Weil er die Wahrheit spricht? »Belén, du brauchst Wasser und etwas zu essen. Cosmé soll dich versorgen …«
»Nein! Nicht Cosmé. Oh Gott, jeder, nur sie nicht.« Er raunt noch etwas vor sich hin, aber seine Worte verlieren sich in unverständlichem Gemurmel.
Tränen brennen in meinen Augen. Ich beiße mir auf die Lippen und balle die Hand zur Faust, bis ich mich wieder im Griff habe. »Bringt ihn nach drinnen«, sage ich zu den beiden Jungen, die ihn an den Armen gepackt halten. »Geht sanft mit ihm um. Er muss bei Kräften bleiben, damit er uns erzählen kann, was er weiß.« Sie wenden sich sofort zum Gehen und nehmen den benommenen Gefangenen mit sich. Dann wende ich mich den anderen dreien zu. »Ist man ihm gefolgt, was glaubt ihr?«
Sie sehen einander an, zucken mit den Schultern, wenden sich dann wieder an mich. »Wir werden uns umsehen, Hoheit«, erwidert ein Junge mit hellen Augen.
»Danke. Ich fürchte, dass er die Inviernos zu uns geführt haben mag.«
»Wir sollten die Außenposten einige Tage lang weiter draußen aufstellen«, schlägt der Junge vor. »Nur aus Vorsicht.«
»Gute Idee. Wie heißt du? Es tut mir leid, aber ich habe es vergessen.«
Er strahlt. »Adán. Bevor ich zu den Malficio kam, war ich Trapper wie mein Vater.«
Ich hoffe, dass er nicht bemerkt, wie zögernd ich ihn anlächele. Er ist sicher nicht älter als dreizehn. »Dann übergebe ich dir die Verantwortung dafür, nach möglichen Verfolgern Ausschau zu halten, Adán.«
Er nickt feierlich. »Wir werden Bericht erstatten, wenn die Nacht einbricht.« Dann machen sie sich auf den Weg, geradezu begeistert dazu bereit, ihr Leben aufs Spiel zu setzen.
Aber ich kann es mir nicht erlauben, mir Sorgen um sie zu machen. Ich schlucke und hole tief Luft, bevor ich wieder zur Höhle zurückkehre. Dort finde ich Belén, der vor der ausgebuchteten Wand zusammengesunken ist. Cosmé ist schon bei ihm und betupft sein Gesicht. Sie reden nicht miteinander. Als sie sein Kinn leicht anhebt, um zu überprüfen, ob er auch am Hals verwundet ist, gleitet sein Auge zur Seite und meidet ihren Blick. Die beiden jungen Männer, die ihn hierhergebracht haben, beobachten ihn still aus einiger Entfernung.
»Cosmé.«
»Er ist kein Verräter«, zischt sie, ohne sich umzusehen.
»Das mag sein. Wann werde ich mit ihm reden können?«
Sie säubert eine verkrustete Schnittwunde am Haaransatz mit einem nassen Tuch. »Er hat Fieber und redet wirr. Er braucht Ruhe und Wasser. In einem Tag oder so kannst du mit ihm sprechen.«
»Er erwähnte eine Warnung. Damit schien es ihm sehr ernst zu sein.«
»Er braucht Ruhe.«
Ich seufze leise, weil ich daran denken muss, wie sich Papá und Alodia über meinen Kopf hinweg zu unterhalten pflegten. »Belén.«
Cosmé wirbelt herum und springt auf. Ihre Augen schimmern tränenfeucht. »Ich habe doch gesagt, er braucht Ruhe, bevor er irgendetwas tut. Sonst wird er sich vielleicht nie erholen.«
Ich ignoriere sie. »Belén, wenn du bereit bist, mit mir zu sprechen, sag Cosmé oder einem der Wächter, dass sie mich holen sollen.«
»Elisa.« Die Stimme ist so gebrochen und leise, dass ich zuerst nicht sicher bin, ob er wirklich etwas gesagt hat. »Elisa!«
Ich eile zu ihm und knie mich neben ihn auf den Boden. Er riecht nach Fäulnis, aber trotzdem beuge ich mich nahe an sein Gesicht. »Ich bin hier, Belén.« Schön, vielleicht ist er ein Verräter, aber bevor er das wurde, war er mein Freund, und bei seinem Anblick breitet sich ein Brennen in meiner Brust aus.
»Du musst von hier verschwinden. Du und der Feuerstein. Sie wissen davon, Elisa.«
»Was wissen sie?«
Cosmé hockt sich neben mich auf den Boden, bereit, nötigenfalls sofort einzuschreiten.
»Sie wissen, dass du die Trägerin bist. Sie wollen deinen Feuerstein.«
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