Der Feuerstein
Seine Hand schießt unter dem zerrissenen Gewand hervor und schließt sich mit verzweifelter Kraft um mein Handgelenk. »Sie dürfen deinen Stein nicht bekommen, Elisa. Ganz Joya wird zerstört, wenn sie es schaffen. Du musst fliehen. Jetzt. Heute!« Er keucht, und sein Auge verdreht sich. Cosmé streckt schnell die Hände aus, um seinen Kopf zu stützen, bevor er gegen die Kalksteinwand schlägt.
Ich stehe langsam auf, lasse seine Worte in mir nachhallen, während Cosmé ihm sanft hilft, sich ausgestreckt hinzulegen. Er versucht, noch etwas zu sagen, aber sie mahnt ihn zur Ruhe und wäscht weiter seine Wunden aus. Ihre Bewegungen sind vorsichtig und behutsam, als sei Belén aus kostbarem Glas. Die ganze Zeit über raunt sie ihm leise etwas zu, fährt ihm mit den Fingern durchs Haar und streichelt sein Gesicht.
»Ich werde alles herausfinden, was ich kann«, sagt sie schließlich mit resignierter Stimme.
»Danke.« Wie ich so zu ihnen hinuntersehe, muss ich die Arme um meinen Körper schlingen, um mich gegen einen kalten Stich zu wappnen. Dann flüchte ich aus der Höhle und suche nach Humberto; plötzlich muss ich ihn dringend sehen. Ich brauche sein fröhliches Lächeln und seine lachenden Augen und seinen ruhigen Rat.
25
W ir verschieben unsere Abreise nach Basajuan, damit wir noch alles erfahren können, was Belén uns mitzuteilen hat. Am ersten Tag spuckt er lediglich einige panische Gedankenfetzen aus, die wir kaum so zusammensetzen können, dass sie einen Sinn ergeben – davon abgesehen, dass er um mein Leben fürchtet und um das Schicksal von ganz Joya d’Arena. Seine Ausbrüche lassen mich überraschend kalt. Schon so lange ist die Angst mein ständiger Begleiter. Eine Warnung mehr oder weniger, was hat das schon zu sagen? Es sind nur die Worte eines Wahnsinnigen, harmlos und so leicht zu ignorieren wie das Aufflackern eines Irrlichts.
Humberto nimmt das alles wesentlich weniger gelassen auf. Er ist stets in meiner Nähe, und sobald ich zu ihm hinüberschaue, sehe ich seine großen braunen Augen auf mich gerichtet, hell glänzend und voll Gefühl. Er nimmt mich auf eine Weise wahr, wie Alejandro es nie getan hat, und jedes Mal, wenn ich seinen Blick spüre, löst das ein warmes Glühen in mir aus. Ich frage mich, ob er ebenso oft an unseren Kuss denkt wie ich.
Jedenfalls versuche ich nicht, ihn von seiner Wachsamkeit
abzubringen. Er ist der fürsorglichste Mensch, den ich kenne, und beherrscht so viele verschiedene Dinge – er kann Kaninchen fangen und Wasserstellen finden, ist aber genauso gut darin, andere zum Lachen zu bringen. Ich weiß, dass er alles tun wird, was in seiner Macht steht, damit ich nicht in Gefahr gerate.
Am Nachmittag des nächsten Tages sitze ich auf einem kleinen steinigen Buckel, den Rücken gegen das sonnengewärmte Gestein des Tafelbergs gelehnt. Die Abschrift von Homers Afflatus liegt auf meinem Schoß, und ich lese sie wieder und wieder in der Hoffnung, etwas zu entdecken, was den Gelehrten in vielen Jahrhunderten aufmerksamer Forschung entgangen sein könnte. Das Dorf ist zwar nur wenige Schritte entfernt, aber außer Sichtweite. Noch nie zuvor in meinem Leben war meine Meinung, meine Zustimmung oder meine Gegenwart so gefragt wie in diesen letzten Tagen. Ich habe Macht über diese Menschen, Macht, die sie mir freiwillig anvertraut haben. Es ist Furcht einflößend und seltsam und auch ein kleines bisschen großartig. Aber es ist auch anstrengend, und ich genieße es, ungestört zu sein.
Doch nun höre ich Schritte und seufze unwillkürlich. Aber meine Enttäuschung weicht schnell warmer Freude, denn es ist Humbertos Kopf, der über dem Rand der Höhe sichtbar wird. Ich begrüße ihn mit einem Lächeln.
»Du solltest nicht allein sein«, sagt er.
Mein Lächeln wird noch breiter. »Jetzt bin ich ja nicht mehr allein.«
Unsere Schultern berühren sich kurz, als er sich neben mich setzt. Dann stützt er die Unterarme auf die Knie und sieht in die Wüste hinaus. »Ich muss mit dir über etwas reden.«
Mein Lächeln erlischt, und ich schlucke nervös. »Worüber denn?«
Er sieht mich nicht an, sondern gräbt nur den Hacken seines Stiefels in den Kies. »Über diesen Tag in der Höhle. Bevor du gefangen genommen wurdest.«
Bei der Erinnerung an seinen Kuss überzieht Röte meinen Hals. Zwar habe ich genau dieses Gespräch schon einige Dutzend Male in meinem Kopf geführt, aber es nie selbst gesucht, als ob dieses Erlebnis, wenn wir darüber sprächen oder auch nur
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