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Der Feuerstein

Der Feuerstein

Titel: Der Feuerstein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rae Carson
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keuchend.
    Jemand springt vor, verschwommen erkenne ich graues Haar und zerknitterte Röcke. Ein Gurgeln, ein Körper stürzt zu Boden. Ximena! Sie tritt zurück, ich sehe unseren Gefangenen tot auf dem Rücken liegen, und die Haarnadel meiner Kinderfrau ragt unter seinem Kinn heraus.
    Ich starre die Nadel an. Ein so kleines Ding. Blut dringt rund um die Einstichstelle hervor, rinnt über seine Haut und sickert in die Dschungelerde.

    »Es tut mir so leid, mein Himmel. Ich dachte, er wollte dich angreifen.« Sie hätte mir genauso gut mitteilen können, dass ich zu spät zum Morgengebet komme.
    Mit ungläubigem Blick sehe ich meine Kinderfrau an, überrascht von der Geschwindigkeit, mit der sie sich bewegt hat. Ich frage mich, wieso es zum Todesurteil für den Mann vor mir wurde, dass er das Leben in meinem Nabel entdeckt hat.

4

    I n jener Nacht singen wir eine Erlösungshymne und zünden Kerzen für die Toten an, was eigentlich eine Dummheit ist. Wenn die Perditos erneut angreifen sollten, werden die kleinen Flämmchen, die wie Sterne in der dichten Dschungelfinsternis leuchten, hervorragende Ziele abgeben. Aber wir lassen sie trotzdem brennen.
    Keiner der fünfzehn Toten war mir persönlich bekannt, und als der König leise ihre Namen nennt, kann ich mich nicht an ihre Gesichter erinnern. Dennoch war jeder auf dieser Reise freundlich zu mir, und ich trauere über den Verlust der Männer, weil Alejandro es tut. Während mein Ehemann sie mit wohlgesetzten Worten würdigt, bete ich schweigend. Ich danke Gott dafür, dass er Alejandros Leben und das meiner Kammerzofen erhalten hat. Der Feuerstein sendet sanfte Wärmestrahlen durch meinen Körper, wie immer, wenn meine Gebete aus tiefstem Herzen kommen. Als wir Aneaxi unter der Kutsche herausgeschleift haben, habe ich mir den Rücken verrenkt, aber der Schmerz ebbt schon bald ein wenig ab, und ich fühle mich angenehm schläfrig.
    Als kleines Mädchen war es meine größte Angst, der Feuerstein
könnte aufhören, in mir zu leben, dass er kalt und reglos werden würde wie jeder andere Edelstein auch. Es wäre der Augenblick, in dem ich wüsste, dass mein Auftrag zu Dienen erloschen sei, dass ich zu selbstsüchtig oder zu faul oder zu dumm gewesen war, um recht zu handeln. Von daher habe ich mich stets über die sanfte Reaktion auf meine Gebete gefreut. Sie ist ein Zeichen, dass ich doch keine völlige Versagerin bin.
    Alejandro beendet die Zeremonie mit einem geraunten »Selah«, und die Leute zerstreuen sich, um Vorbereitungen für die morgige Weiterreise zu treffen.
    »Lucero-Elisa.« Seine Stimme ist so leise, dass ich fast glaube, sie mir nur eingebildet zu haben, aber seine Augen, die im Kerzenlicht funkeln, sind auf mich gerichtet, als er näher tritt. Seinen verwundeten rechten Arm, der in einer grauen Schlinge steckt, hält er fest gegen seinen Bauch gedrückt.
    »Alejandro.«
    »Ich möchte dir danken, Elisa. Hector sagt, du hast dich während des ganzen Angriffs herausragend mutig verhalten.« An Mut erinnere ich mich kein bisschen. Nur an Hitze und Angst. »Und …« Er wendet den Blick ab. »Und du hast mir wahrscheinlich das Leben gerettet.«
    Alodia würde das Lob, obwohl es nur ganz schwach anklingt, sofort zurückgeben. Sie würde eine kleine Schmeichelei daraus machen, würde sagen, dass er sich dank seiner Stärke und Tapferkeit auch ohne jede Hilfe selbst aus der gefährlichen Lage hätte befreien können.
    Aber er war vor Entsetzen erstarrt, und ohne mich wäre er jetzt sicherlich tot. Mit plötzlicher Kühnheit erwidere ich:
»Ja, das stimmt. Und ich habe es gern getan.« Vielleicht ist das meine große Tat, die Aufgabe, zu der ich ausersehen bin – das Leben eines Königs zu retten? Aber das Juwel strahlt noch immer bedeutungsschwere Wärme aus.
    Alejandro lächelt mich an, ein jungenhaftes Lächeln, das mich ebenso stark wärmt, wie es der Feuerstein vermag, und das unbehagliche Gefühl vergeht. Ich lächele schüchtern zurück.
    »Vermisst du dein Zuhause, Elisa?«
    Mein Mund öffnet sich und möchte sagen, ja, ich vermisse es schrecklich, aber dann merke ich, dass das nicht stimmt. »Ein bisschen. Aber wahrscheinlich bin ich noch nicht lange genug weg.« Es wäre schön, sich wieder sicher fühlen zu können, Papá zu umarmen oder sogar bei Meister Geraldo zu studieren. Aber ich sehne mich nicht danach. Noch nicht.
    Doch nun kommt Ximena auf mich zu, und daher entschuldige ich mich und ergreife die Flucht. Ich bin noch nicht so weit, mich

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