Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Feuerstein

Der Feuerstein

Titel: Der Feuerstein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rae Carson
Vom Netzwerk:
ein: »Wirst du ihn vermissen?«
    Ximena nickt. »Sehr.«
    Sie schwingt sich durch die offene Tür der Kutsche ins Innere und setzt sich zu mir auf die Bank. Ihre Hände sind kräftig und schwielig. Ich versuche mir vorzustellen, wie diese Hände sorgfältige Pinselstriche auf einem Pergament ziehen. Mein ganzes Leben lang habe ich immer wieder ihre rauen Fingerspitzen auf meinem Rücken gefühlt und ihre Geschicklichkeit und Kraft beobachtet. Genug Kraft, um mit einer Haarnadel zu töten.
    »Du siehst mich so seltsam an.«
    »Neulich … dieser Gefangene.«
    Ihr Blick wird weicher. »Ich dachte mir schon, dass du fragen würdest.«
    »Du hast dich so schnell bewegt, Ximena! Und du wusstest genau, wohin du die Nadel stechen musstest, und du wusstest, dass er mich nicht angreifen wollte, und ich …« Das
klingt alles ganz falsch, als ob ich ihr einen Vorwurf mache, obwohl das völlig albern wäre, da sie nicht die Einzige ist, die an jenem Tag getötet hat.
    Aber sie sieht mich auf dieselbe Weise an wie immer, mit unendlicher Geduld und tiefer Liebe. »Mein Himmel, ich wünschte, ich könnte dir so viele Dinge erzählen.« Sie streicht mir mit den Fingerknöcheln über die Wange. Dann schwankt die Kutsche, als sie den Tritt hinabsteigt. »Ich muss nach Aneaxi sehen.«
    Eine leichte Gänsehaut zieht sich über meine Arme, als ich beobachte, wie Ximena um die Schlafsäcke und Feuerstellen unseres kleinen Lagers herumgeht. Mir wird bewusst, dass ich, während ich hier sitze und aus dem Kutschenfenster schaue, nur ein Hemdchen und einen zerrissenen Unterrock trage.
     
    Am nächsten Tag fahre ich mit Aneaxi, die wegen ihres geschienten Beins besonders viel Platz braucht. Sie zuckt jedes Mal zusammen, wenn wir über eine Unebenheit holpern, und Schweiß tritt ihr auf die Stirn. Während sie sich Kühlung zufächelt, antwortet sie mir auf alle Fragen, die ich schon vor Jahren hätte stellen sollen.
    Wie ich erfahre, ist meine Kammerzofe die uneheliche Tochter des Conde Sirvano, der zum Hofstaat meines Vaters gehört. Aufgrund ihrer Herkunft kam sie nicht dafür infrage, durch eine Heirat eine wichtige politische Verbindung zu besiegeln, aber gleichzeitig war sie doch zu bedeutend, um in das Kloster gesteckt zu werden, in dem Ximena aufwuchs. Und so war ihre Position am Hof ständigen Veränderungen unterworfen und hing stark von der Laune ihres Vaters ab.
»In diesem Haushalt groß zu werden war schrecklich«, sagt sie. »Hinter meinem Rücken wurde dauernd geflüstert, und man warf mir finstere Blicke zu. Ich trug die abgelegten Kleider meiner älteren Halbschwester. Sie pflegte sie zu zerreißen oder mit Tinte zu beschmieren, bevor ich sie bekam.«
    Ich lausche versunken ihren Worten, denn ich weiß schließlich, wie es ist, eine Schwester zu haben, die aller Leute Liebling ist, und die unübersehbaren, verächtlichen Blicke der Höflinge auszuhalten. Mein Leben lang war es vor allem Aneaxi, die Mitgefühl und Verständnis hatte, die mich umarmte und mir immer wieder sagte, wie leid ihr alles täte. Jetzt verstehe ich, wieso.
    »Ich begann, freiwillig in der Wäscherei zu arbeiten. Nur damit ich das Gefühl hatte, zu etwas nütze zu sein und einmal etwas anderes zu sehen. Eines Tages bemerkte mein Vater bei Hofe, wie aufgesprungen und rot meine Hände waren. Er schlug mich.« Sie zuckt mit den Schultern, als mache ihr all das überhaupt nichts aus. Und vielleicht tut es das auch nicht, nicht mehr. Es liegt nicht in Aneaxis Natur, sich lange über etwas zu ärgern.
    »Allerdings kam er auch zu einem Entschluss: Wenn ich unbedingt arbeiten wolle, sagte er, dann würde er mir eine Aufgabe suchen, die meinem Stand entspräche, soweit man überhaupt von Stand reden könne. Das waren seine Worte, ›soweit man bei dir von Stand reden kann‹. Er verfügte, dass ich seiner damaligen Ehefrau aufwarten sollte, die kaum älter war als ich. Er hatte wohl vermutet, es würde eine Strafe für mich sein, aber wir schlossen Freundschaft. Und als deine Mamá mit Alodia schwanger wurde, empfahl meine Herrin mich Ximena, die damals die Zofe der Königin war.«

    »Hast du es je bedauert«, frage ich, »dass du in den Palast kamst, um meiner Familie zu dienen?«
    »Oh nein, niemals. Ich habe deine Mamá geliebt. Alodia auch, obwohl sie so fürchterlich unabhängig und störrisch ist. Aber du, Elisa, du bist die Freude meines Lebens.« Sie lächelt verschmitzt. »Und außerdem ist das Essen im Palast so viel besser. Den Koch des Conde

Weitere Kostenlose Bücher