Der Feuerstein
Befangenheit entsteht, die ihn plötzlich weit weg erscheinen lässt.
Er deutet auf das Porträt neben dem von König Nicolao, das eine Frau mit seidenweicher Haut und obsidianfarbenem Haar zeigt. Sie trägt ein cremeweißes Kleid und hält eine dazu passende Perlenschnur in ihrer zarten, schmalen Hand. Sie erinnert mich an meine Schwester, denn ihr ist dieselbe schlichte Eleganz und ruhige Gelassenheit zu eigen, die eine hübsche Frau zu einer wahren Schönheit machen.
»Das ist Königin Rosaura, Alejandros erste Frau und die Mutter seines Sohnes, Prinz Rosario.«
Mein Herz sinkt, und Röte überzieht meine Wangen. Bis zu diesem Augenblick war mir nicht so deutlich bewusst gewesen, wie unmöglich es für Alejandro sein würde, mich zu lieben.
»Hoheit?«, fragt der Gardist. »Fühlt Ihr Euch nicht wohl?«
Mit der Hand fahre ich über meinen Bauch. »Habt Ihr dieses Knurren gehört?« Mit einem nervösen Lachen begegne ich Ximenas Blick. Ich wünschte, sie würde mich nicht so gut kennen. »Lord Hector, wieso zeigt Ihr uns nicht als Nächstes die Küchen?«, sage ich rasch und biete ihm meinen Arm. Das ist ein Trick von Alodia, den ich Hunderte Male bei ihr gesehen habe, wenn sie jemanden ablenken oder durcheinanderbringen will.
Er nimmt meinen Arm, und als wir uns zum Gehen wenden, sehe ich, dass seine ruhige Fassade einen Riss bekommen hat. Es ist nur ein winziger Augenblick, aber ich bin betroffen, wie leicht und geübt sich Trauer in die Fältchen um Mund und Augen legt.
Der Küchenmeister versorgt mich ganz entzückt mit kleinen Honig- und Kokosbrötchen. Als wir schließlich das Kloster
erreichen, ist mir nicht wohl, weil ich mich so vollgestopft habe und dann noch so viel laufen musste.
Das Kloster schmiegt sich unelegant an den Nordflügel von Alejandros Palast. Erst schreiten wir unter holzgestützten Gewölben dahin, durch lange Sandsteinflure, die mit denselben blau-goldenen Fliesen verziert sind wie mein Atrium, dann stehen wir plötzlich in niedrigen Räumen mit roten, geschwungenen Ziegelwänden und einem Fußboden aus Steingutfliesen. Es wirkt, als seien wir aus Joya d’Arena unversehens in Papás Palast-Hacienda gelangt, und mich überkommt nun doch ein wenig Sehnsucht nach zu Hause.
Ein kleiner, alter Mann in einer Robe aus ungefärbter Wolle humpelt uns entgegen. In seinem scharf geschnittenen Gesicht zuckt ein Muskel. Zu meiner Überraschung tritt Ximena vor und fragt: »Seid Ihr Vater Nicandro?«
Er klatscht in die Hände und lächelt breit. »Lady Ximena! Vater Donatzine ließ mich wissen, dass Ihr kommen würdet.« Die beiden umarmen sich, während Lord Hector und ich wie unsichtbar danebenstehen.
Ich schließe die Augen, während sie sich unterhalten, und inhaliere den intensiven Duft der Rosen und Gebetskerzen. An diesen Ort werde ich oft zurückkehren, um zu beten, oder auch nur, um die Stille und das Alleinsein zu genießen; das weiß ich schon jetzt. Der Feuerstein reagiert auf meine Gedanken mit warmer, sanfter Beruhigung.
Vater Nicandro bricht mitten im Satz ab und wendet mir den Kopf zu, um mich genau zu betrachten. »Donatzine hat es mir nicht gesagt«, flüstert er. »Ximena, Ihr seid die Beschützerin der Trägerin!«
Lord Hector tritt näher, als wollte er mich abschirmen, während Wachsamkeit wie ein dunkler Schleier über Ximenas Augen zieht. Mein Herz schlägt schneller. Der Priester hat den Feuerstein gespürt, der in mir lebt. Und meiner Kinderfrau gefällt das nicht.
»Seid Ihr sicher, dass es weise war, das Mädchen hierherzubringen?« , fragt Nicandro.
Ich stehe hier direkt vor Euch!, würde ich am liebsten schreien. Ich bin kein kleines Kind, über dessen Kopf hinweg gesprochen wird, so wie es Papá und Alodia ständig tun.
Ximena antwortet ihm nicht sofort. Ich beobachte sie, wie sie einen Augenblick nachdenkt, die Augen leicht zusammengekniffen. »Wir hielten es für das Beste.« Ihre Stimme ist leise, und ganz offensichtlich soll ich das eigentlich nicht hören. »In Orovalle ist die Trägerin gut bekannt und wird ständig beobachtet. Sie wird hier sicherer sein, wo nur noch wenige Menschen dem Weg Gottes folgen.«
Sicherer. Haben sie mich deswegen so schnell verheiratet? Weil der Feuerstein mich in Gefahr bringt? Ich muss unwillkürlich an den bemalten Wilden denken, der tot im Dschungel lag, weil er erkannt hatte, was sich in meinem Nabel verbirgt. Beruhigt stelle ich fest, dass Ximena heute ihr Haar zu einem langen grauen Zopf geflochten hat und
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