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Der Feuerstein

Der Feuerstein

Titel: Der Feuerstein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rae Carson
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vielleicht doch besser, als keinen Nutzen und keine Aufgabe zu haben. Und vor allem mag es der einzige Weg sein, Alejandro irgendwie für mich zu erobern und von ihm wahrgenommen zu werden. Stundenlang spiele ich mit dieser Vorstellung, frage mich, was Alodia an meiner Stelle täte, und rufe mir die entsprechenden Passagen der Belleza Guerra ins Gedächtnis.
    Im Geiste stelle ich eine Liste der Vorteile auf, auf die ich zurückgreifen kann. Alejandro hat mich in den Gemächern der Königin untergebracht. Zwar bin ich mir nicht sicher, was das zu bedeuten hat, aber es war offenbar wichtig genug für seine Geliebte, gleich am Tag nach meiner Ankunft ihre Zofe zum Spionieren zu mir auszusenden. Dann habe ich Ximena an meiner Seite, eine Frau, die ich noch nicht einmal ansatzweise verstehe, aber deren Treue mir gegenüber völlig außer
Frage steht. Der oberste Priester des Klosters zu Brisadulce ist mein Freund geworden. Ich bin eine Prinzessin von Orovalle und stehe damit vom Rang her über allen anderen, von Alejandro und seinem kleinen Sohn einmal abgesehen.
    Aber der größte Vorteil ist, dass ich den Feuerstein trage. Immer wieder hat man mir gesagt, dass es eine große Ehre ist, die Gott lediglich einmal in hundert Jahren jemandem zuteilwerden lässt, ein Zeichen, dass ich zu Höherem bestimmt bin.
    Aber gerade in letzter Zeit ist mir immer wieder klar geworden, wie wenig ich über diesen Stein weiß. Alodias Warnung, dass ich niemandem vertrauen sollte. Der gewaltsame Tod eines Mannes, der ihn entdeckt hat. Die Art, wie Vater Nicandro meine Kinderfrau als meine Beschützerin bezeichnete. Und jetzt Alodias Brief, in dem sie davon spricht, dass ich sicher in ein anderes Land gebracht werden sollte.
    In der Belleza Guerra heißt es: Hüte dich vor Macht, denn sie ist der Feuerstein, der Funken schlägt, um Angst daran zu entzünden. Was ist an meinem Feuerstein, das so viel Angst auslöst?
    Ich lege die Fingerspitzen auf die glatte Oberfläche. Selbst durch mein Nachtkleid hindurch pocht der Stein sanft und warm. Wenn ich mich dazu durchringen sollte, dieses Furcht einflößende Spiel mitzuspielen, dann muss ich als Erstes herausfinden, was es wirklich bedeutet, eine Trägerin zu sein. Und ich werde dafür irgendwie Ximenas Wachsamkeit entkommen müssen.
    Ich schließe die Augen und bete. Hast du diesen Stein in mich gepflanzt, damit er mir hilft, Königin zu werden? Welche Antwort ich mir von Gott erhoffe, kann ich nicht sagen.

    Eine warme Hand legt sich auf meine Stirn, und ich schlage die Augen wieder auf. Ximena lächelt mich liebevoll an. »Du siehst viel besser aus«, sagt sie. »Viel mehr Farbe auf deinen Wangen.«
    Ich erwidere ihr Lächeln. »Mir geht es viel besser.«
    »Möchtest du jetzt noch etwas essen? Ich könnte dir Gebäck bringen lassen, und vielleicht auch gekühlten Saft?«
    »Nein, danke.« Mein Kopf schwirrt vor lauter Plänen, denn möglicherweise ist mir doch gerade eine Möglichkeit eingefallen, um heimlich mit Vater Nicandro zu sprechen. »Ich habe keinen Hunger.«

8

    I n der Scriptura Sancta heißt es, alle Menschen seien gleich vor dem Angesicht Gottes, und daher sitzen tatsächlich einmal in der Woche die Dienstboten neben Kaufleuten und Edlen. Bei unserem ersten Gottesdienstbesuch im Kloster Brisadulce saßen Ximena und ich auf einer roh gezimmerten Bank, umgeben von gerade mal einer Handvoll Fremder. Jede Woche kamen jedoch mehr Menschen hinzu, und inzwischen sind alle Plätze auf den Bänken besetzt. Der Raum heizt sich durch die Wärme der Körper auf.
    Ich vermute, dass ich der Grund der neu auflebenden Frömmigkeit bin. Jeder möchte einen Blick auf die einsiedlerische Prinzessin von verblüffend hohem Stand werfen, auf dieses dicke, fremdartig gekleidete Mädchen, das immer wieder in die Bibliothek mit den heiligen Schriften geht und mit so viel Inbrunst betet. Heute bin ich besonders froh über die große Menge, die sich eingefunden hat. Inmitten so vieler Leute werde ich Vater Nicandro meine kleine Notiz viel leichter zustecken können, direkt unter den Augen der wachsamen Ximena.
    Ich neige den Kopf, als uns die Priester, allen voran Vater
Nicandro, durch das »Glorifica« führen. Zwar wurde es in die Lengua Plebeya übersetzt und lässt daher die lyrische Schönheit der ursprünglichen Sprache vermissen, aber die Worte wärmen dennoch mit ihrer Tiefe meine Seele, und der Feuerstein reagiert auf unsere Gesänge mit freudigen Strahlen.
    Meine Seele preist Gott, lass sie

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