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Der Feuerstein

Der Feuerstein

Titel: Der Feuerstein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rae Carson
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sehe weiter zu dem seltsamen Tuch über mir hinauf und begreife endlich, dass ich mich in einem Zelt befinde. Ich bin in dicke Decken eingewickelt, die mir die Arme fest an die Seiten schnüren. Dem Geruch nach sind sie aus Ziegenhaar. Mein unbedecktes Gesicht und mein Hals sind kühl, die allmählich trocknenden Tränen auf den Wangen eiskalt.
    Von draußen sind gedämpfte Stimmen zu hören. Mindestens drei. Meine Feinde müssen entweder sehr mächtig oder aber sehr schlau sein, um sich in den königlichen Flügel von Alejandros Palast zu schleichen und dann unerkannt zu entkommen, noch dazu beladen mit einem Paket von Menschengröße.
    Meine Feinde. Die Worte aus Homers Afflatus über die Tore des Feindes kommen mir wieder in den Sinn. Über das Reich der Hexerei.
    Ich höre, wie der schwere Stoff der Zelttür zurückgeschlagen wird, Schritte ertönen, und schon steht Humberto wieder neben mir. Er hält mir eine Schale mit Fleischbrühe an die Lippen, und ich schnuppere misstrauisch.
    »Sie ist nicht vergiftet«, sagt er. »Das hätten wir schon mit der entsprechenden Dosis Duermakraut erledigen können.«
    »Nimm selbst einen Schluck.«

    Er zuckt mit den Schultern und setzt die Schale an den Mund. Ich sehe ganz genau hin, um sicherzugehen, dass er auch wirklich trinkt.
    Als er mir die Schale wieder hinhält, nehme ich einen großen Schluck. Die Suppe ist heiß und gut; es sind Fleischbrocken mit einem mir fremden Geschmack darin, der etwas an Wildbret erinnert, gewürzt mit Knoblauch und Frühlingszwiebeln. Er setzt die Schale wieder ab, damit ich schlucken und Luft holen kann.
    »Danke. Was ist das?«
    »Meine Schwester kocht die beste Jerboa-Suppe in ganz Joya.«
    »Jerboa?«
    »Das sind kleine Sandratten.« Er ballt die Hand zur Faust. »Ungefähr so groß.«
    Ekel überkommt mich, und ich winde mich leicht in meinen Decken. »Ich habe Rattensuppe getrunken?«
    Er lacht. »Na ja, Jerboas sind schon ein bisschen anders. Viel sauberer zum Beispiel. Sie sehen auch niedlicher aus, sie haben hübsches gelbbraunes Fell und buschige Schwänze.«
    Das überzeugt mich trotzdem nicht.
    »Magst du noch ein bisschen?«
    Zwar hat er gesagt, ich würde gut behandelt werden, aber dessen kann ich mir nicht sicher sein. Wer weiß, wann ich wieder etwas zu essen bekommen werde? Also zwinge ich mich, auch den Rest hinunterzuschlucken.
    Als ich fertig bin, erhebt sich Humberto und streckt sich. »Versuch zu schlafen, Prinzessin. Wir brechen morgen früh auf.« Aufbrechen – wohin? Aber er ist schon verschwunden und hat die Fackel mitgenommen, bevor ich
diese Frage stellen kann. Er lässt mich in der eisigen Dunkelheit allein.
    Noch nie habe ich mich so ängstlich und machtlos gefühlt. Es ist eine Erleichterung, die Augen zu schließen. Trotz allem schlafe ich tatsächlich schnell ein.
     
    Der starke Drang, mich zu erleichtern, weckt mich. Goldenes Licht und angenehme Wärme kriechen in mein Zelt, aber der Druck in meinem Unterleib ist enorm. Vorsichtig krümme ich meine Zehen und ziehe die Beine ein wenig an, um ihre Beweglichkeit zu prüfen. Meine Glieder sind schwer und schwach, aber sie reagieren. Leise befreie ich meine Arme aus der engen Umhüllung.
    Ein leichter Wind bläht die Zeltwände, aber ich höre keine Stimmen und keine Bewegung von draußen. Man hat mich nicht gefesselt. Vielleicht haben sie nicht erwartet, dass die Wirkung des Duermakrauts so schnell nachlässt. Vielleicht, vielleicht wird es mir gelingen zu fliehen.
    Ich schlage die Ziegenhaardecken zurück und stehe schwankend auf. Dann bleibe ich einen Moment reglos stehen und lausche. Nichts. Der Zeltboden ist mit einem leinenartigen Stoff ausgelegt, über den ich auf Zehenspitzen zum Eingang schleiche. Ich schiebe meine Hand durch die schmale Lücke, durch die das Licht fällt. Dann wird mir bewusst, dass ich noch immer nur mein Nachthemd und meine Bettschuhe trage, und kurz halte ich inne, aber falsche Scham kann ich mir nicht leisten. Mein Herz klopft wie rasend, als ich den Stoff beiseiteziehe.
    Licht blendet mich. Ich drehe das Gesicht zur Seite und warte, bis sich meine Augen daran gewöhnt haben. Heißer
Wind zerzaust die Haarsträhnen, die Ximenas Steckkämmen entgangen sind. Dann trete ich aus dem Zelt in feinen Sand, der meine Füße selbst durch meine Schuhe hindurch sofort wärmt.
    Noch ein Schritt, und dann weiß ich, dass es keine Flucht geben wird. Elend vor Hoffnungslosigkeit schlinge ich meine Arme um den Körper. Ich fühle mich

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