Der Feuerstein
schrecklich klein. Vor mir erstrecken sich die weiten Dünen der Wüste Joya d’Arenas in jeder Richtung, brandrot dort, wo noch Schatten ruhen, und hell wie geschmolzenes Gold im Sonnenaufgang ganz weit draußen am Rand der Welt. Sofort begreife ich, wie unbeständig diese Landschaft ist, wie unvorhersehbar und gefährlich. Die Sonne steht in meinem Rücken und ist schon jetzt gnadenlos. Ich befinde mich auf einer Kuppe, sodass sich mein Schatten weit in die Ferne streckt und sich über den welligen Sand ringelt.
»Wollen wir irgendwohin, Hoheit?«
Ihre spöttische Stimme lässt mich zusammenzucken. Es ist die vertraute, die ich nicht zuordnen konnte, als ich noch vom Duermakraut benebelt war. Ich schließe die Augen und atme tief ein, um mich zu sammeln, bevor ich mich zu ihr umdrehe.
»Hallo, Cosmé.«
Sie steht gerade aufgerichtet und mit verschränkten Armen da, ihr kurzes Haar ringelt sich offen im Wüstenwind. Ihre schwarzen Augen und ihre feinen Züge sind unverändert, aber ohne Schürze und Dienerinnenhaube wirkt sie trotzdem völlig verändert. Vielleicht liegt es aber auch daran, dass ihr Gleichmut nun offener Feindseligkeit gewichen ist.
»Wie schön, dich zu sehen«, lüge ich. »Ich hoffe, es geht dir gut.«
»Wie ich sehe, verliert das Duermakraut schnell an Wirkung.«
»Was habt ihr mit Ximena gemacht? Habt ihr sie getötet, damit ihr mich verschleppen konntet?«
Sie bewegt leicht ihre Füße im Sand, ein kleiner Riss in ihrer gefühllosen Fassade vielleicht. »Deiner Kinderfrau geht es gut. Ich habe ihr eine Prise Duermakraut in den Tee getan, damit sie fest schläft, das war alles.«
Meine Erleichterung ist grenzenlos, aber ich will vor Cosmé nicht weinen. Meine einzige Waffe ist die Unberechenbarkeit, und daher überschütte ich sie mit höflichem Respekt. »Danke. Und danke für die Suppe gestern Abend.«
Sie zieht die Stirn in verärgerte Falten. »Mein Bruder hat einen Narren an dir gefressen und besteht darauf, dass wir dich gut behandeln, daher kannst du dich bei ihm bedanken.«
»Humberto ist dein Bruder?« Ich kann mir nicht vorstellen, wie zwei so unterschiedliche Menschen vom gleichen Blut sein können. Als ich sie nun ansehe, fällt mir allerdings auf, dass sie tatsächlich beide lockige schwarze Haare haben und ihre Züge um Brauen und Nase ebenfalls ähnlich sind.
Cosmé lässt sich nicht zu einer Antwort herab. »Ich habe Reisekleidung für dich. Wir müssen sofort aufbrechen. Humberto wird dir zeigen, wie du dein Zelt abbauen und einpacken musst. Von jetzt an bist du selbst dafür verantwortlich. Und noch eins.« Sie sieht mich angewidert an. »Wenn ich dich dabei erwische, dass du Essen oder Wasser aus unseren Vorräten stiehlst, dann werde ich dich töten, verstanden?«
Ich nicke kühl, obwohl mein Puls wie eine Trommel gegen meine Schläfen pocht. Dann sage ich: »Du musst dir keine Sorgen machen. Ich bin keine von denen, die nachts durch die Gegend schleichen und sich Dinge nehmen, die ihnen nicht gehören.«
Ein Zucken geht über ihr Gesicht. »Zieh dich an.« Damit dreht sie sich auf dem Absatz um und marschiert davon, bevor ich sie fragen kann, wohin wir gehen.
Es war dumm von mir, jemanden zu provozieren, der gerade gedroht hat, mich umbringen zu wollen. Ich werde lernen müssen, viel klüger zu handeln, wenn ich das, was mir auch immer bevorstehen mag, überleben will.
Der Druck, mich zu erleichtern, ist überwältigend. Ich versuche, mein wild schlagendes Herz mit langsamen Atemzügen zu beruhigen, und stapfe durch den Sand, um Humberto zu suchen.
Wir brechen unsere Zelte schnell ab. Außer mir, Cosmé und Humberto sind noch drei andere Jungen dabei, die ungefähr in meinem Alter sind und mir jedes Mal, wenn sie an mir vorübergehen, schuldbewusste Blicke zuwerfen. Meine Zofe – meine ehemalige Zofe – gibt mir einen Stapel mit Kleidung und überlässt es dann Humberto, mir zu erklären, wie die Sachen getragen werden. Sie sind in hellen Farben gehalten und dicht gewebt. Dazu gehört auch ein Tuch, das als Schutz vor der Sonne über den Kopf geschlungen wird. Einige Fransen kitzeln meine linke Wange, und ich muss mich beherrschen, um mich nicht zu kratzen. Humberto erläutert, dass ich mir das Tuch eng ums Gesicht wickeln kann, falls der Wind stärker wird und zu viel Sand aufgewirbelt wird.
Das Wichtigste jedoch sind ein Paar Stiefel, hart und wenig biegsam. »Sand und Geröll scheuern jeden normalen Schuh nach ein paar Tagen durch«, sagt
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