Der Feuerstein
Humberto.«
»Prinzessin.« Er macht jedoch keine Anstalten einzutreten.
»Meinst du, ich bin noch immer in Gefahr? Dass jemand mich wegen des Steins ermorden will, den ich trage?«
Leicht verlagert er sein Gewicht. »Ich weiß es nicht. Meine Leute sind keine Mörder. Aber sie sind verzweifelt. Und hart geworden.«
»Dann würde ich sicherlich besser schlafen, wenn ich wüsste, dass du in der Nähe bist.«
Mit dem Anflug eines Grinsens breitet er seine Decken vor der Schwelle aus. Während er sich die Schuhe auszieht, wandern seine Augen über das Nachthemd, das ich an der Wand aufgehängt habe.
Es ist das schönste Ding im ganzen Dorf, und mit seiner feinen Webart und den schimmernden Falten gehört es so offensichtlich nicht an diesen Ort. »Es passt mir nicht mehr«, sage ich wegwerfend. »Aber es ist das Einzige, was mir noch von … von früher geblieben ist. Ich mag mich nicht davon
trennen.« Das stimmt natürlich nicht. Ich hoffe vielmehr, dass es mir dabei helfen wird, irgendwie aus diesem entlegenen Dorf zu fliehen.
Er streckt sich auf der Seite aus und stützt den Ellenbogen auf. »Mach dir keine Sorgen, Prinzessin.« Er deutet mit dem Kopf zu dem Nachthemd hinüber. »Nach ein paar Wochen normalem Essen und Trinken wirst du schon wieder in Ordnung kommen.«
Leise seufzend schließt er die Augen, zu schnell, um meinen verblüfften Blick zu bemerken. Glaubt er, dass ich wirklich wieder in dieses Hemd passen möchte?
Die tropfende Kerze erinnert mich daran, dass ich nur wenig Zeit zum Lesen habe, und daher wende ich mich rasch wieder Homers Prophezeiung zu.
Dies geschieht in vier Generationen stets einmal. Er erhob ihn zu sich, dass er sein Zeichen trüge … Er konnte nicht wissen, was an den Toren des Feindes seiner harrte, und er wurde wie ein Kalb zur Schlachtbank ins Reich der Hexerei geführt.
Betreten all jene, die Gott erwählt hat, das Reich der Hexerei? Oder nur einige? Oder nur einer? Vielleicht sogar nur ich?
Ein leises Zittern geht jedes Mal durch meinen Bauch, wenn der Feuerstein im gleichen Absatz wie »Hexerei« erwähnt wird. Aber schnell wird klar, dass Vater Alentín recht gehabt hat. Homer glaubte, dass spätere Feuersteine dazu dienen würden, die Gefahren zu bekämpfen, die Magie für Menschen darstellt.
Das Manuskript ist nicht sehr lang. Ich lese es dreimal
durch, bevor ich es beiseitelege und meine Kerze ausblase. Es dauert lange, bis ich einschlafe.
Rufe und hastige Schritte wecken mich. Humberto und ich schlagen die Decken zurück und laufen nach draußen. Alle rennen in dieselbe Richtung, um den Fuß des Tafelberges herum. Aufregung, vielleicht auch Besorgnis steht in ihren Gesichtern. Wir folgen ihnen, die Arme zum Schutz gegen das gleißende Morgenlicht erhoben. Auf dem Höhenkamm vor uns sind Leute, und Humberto hilft mir, den steinigen Abhang hinaufzuklettern.
Als wir die Kuppe erreichen, sehen wir über die weiten Vorberge. Auf- und abfallend werden sie immer niedriger, bis sie im mächtigen Schatten der Sierra Sangre verschwinden. Die Gebirgskette ist blauschwarz und trägt weiße Hauben, und die Sonne erhebt sich wie eine riesige Scheibe über ihrem Rand. Heute Nacht, wenn sie untergeht, wird sie blutrot erglühen.
Humberto deutet nach unten in eine zerklüftete Schlucht, in der Mesquitebäume und verkrüppelte Wacholder wachsen. Hin und wieder sind zwischen den einzelnen Büschen Köpfe zu sehen. Mindestens zwölf, zusammen mit ein paar schwer bepackten Pferden. Als sie näher kommen, halte ich unwillkürlich den Atem an. Bei dem Gepäck auf den Pferderücken handelt es sich um Menschen, blutig und malträtiert. Die anderen, die noch auf ihren Beinen stehen können, stolpern erschöpft voran, und ihre Gesichter sind beschmiert mit Schweiß und Dreck, vielleicht auch mit Blut.
»Das ist mein Cousin«, sagt Humberto mit schwankender Stimme. »Reynaldo, der Junge, der ganz vorn geht. Sein Dorf
ist sehr groß. Dort leben viele Hundert Menschen. Wenn Invierne sie angegriffen hat, wenn sie die Einzigen sind, die entkommen konnten …« Mehr bringt er nicht heraus, und ich fasse nach seiner Hand.
Er zerquetscht mir fast die Finger. Seine Unterlippe zittert, als wir Kinder in die Schlucht rennen sehen, um den Flüchtlingen zu helfen. Ihre kleinen Gesichter sind voller Hoffnung, und sie reden schnell auf die Neuankömmlinge ein. Es dauert einen Augenblick, bis mir klar wird, dass sie nach ihren Verwandten fragen – nach ihren Eltern,
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