Der Feuerstein
meinem Bett gerissen haben. Es ist aus cremefarbener Seide, an der Vorderseite mit feiner Spitze und winzigen Glasknöpfen verziert, und vielleicht ist es wertvoll genug, um es gegen etwas anderes einzutauschen … oder um jemanden zu verlocken, mich nach Brisadulce zurückzubringen.
Ich wringe es ordentlich aus, nehme es an den Schulternähten und schlage es leicht aus, um den Stoff zu glätten, so wie Ximena es täte. Und ich erstarre und blicke verständnislos auf das Ding in meinen Händen. Es fühlt sich fremd an, wie aus einem anderen Leben. So zart und wunderschön. So … riesig.
Scharf ziehe ich die Luft ein, und dann halte ich das nasse Kleidungsstück mit bebenden Händen vor meinen Körper, hebe es auf Schulterhöhe, sodass der Saum im Wasser schwimmt. Es ist mehr als riesengroß. Es ist ein Zelt von einem Nachthemd, mit Armausschnitten, die bis zur Mitte meines Brustkorbs herunterreichen, und Abnähern, die Platz für eine enorm üppige Oberweite schaffen.
Ich lasse es ins Wasser fallen.
Fast einen Monat lang habe ich in unförmigen Gewändern und unter Kamelhaardecken gesteckt. Heftig atmend blicke ich zu meinem Bauchnabel hinunter. Beinahe schockiert es mich, als das zwinkernde Blau meines Feuersteins meinen Blick erwidert. Nun hebe ich einen Arm und bewundere seine sanft geschwungene Form, betrachte genau, wie mein Oberarm so ganz natürlich in den Unterarm übergeht, staune fast darüber, wie wunderbar sie zusammenpassen. Ich
fahre mit den Händen über meine Brüste, meine Hüften, meinen Hintern, meine Schenkel. Dann treten mir die Tränen in die Augen, als ich noch einmal von vorn beginne.
Ich bin nicht annähernd dünn. Und ganz sicher nicht schön wie Alodia oder Cosmé. Aber ich muss nicht mehr meine Brüste beiseiteschieben oder meinen Bauch hochhalten, um den Feuerstein zu sehen. Zwar sehne ich mich noch immer nach Honiggebäck, aber mein Kopf schmerzt nicht mehr bei dem Gedanken an solche Leckereien. Ich kann den ganzen Tag laufen, ohne wund zu werden.
Ich kann den ganzen Tag laufen.
Ich lasse mich auf dem Rücken ins Wasser gleiten und lächele zu den funkelnden Stalaktiten und den schmalen Spalten im Fels hinauf, durch die aquamarinfarbenes Licht in die Grotte hineindringt. Als Cosmé schließlich kommt, um mich abzuholen, erkläre ich ihr, ich bräuchte noch Zeit.
Ich war noch nicht lange genug nackt.
In dieser Nacht sammeln sich die Bewohner des Dorfes unter einem breiten Felsgesims. Es sieht aus, als sei Gott mit der gewölbten Hand über den Sockel der Felswand gefahren und habe dort eine große Ausbuchtung zurückgelassen, die zur Hälfte von Gestein und zur Hälfte vom sternenübersäten Himmel überspannt wird. In der Mitte glimmt eine Feuerstelle, über der gekocht wird und um die sich viel zu wenig Menschen versammelt haben. Es sind höchstens vierzig, und mindestens zwei Drittel von ihnen sind jünger als ich.
Vater Alentín führt den Vorsitz bei unserem Mahl, das aus einem Lammbraten mit Rüben, frischer Petersilie und Majoran besteht. Er klopft auf den sandigen Boden neben sich,
und ich nehme im Schneidersitz bei ihm Platz. Die anderen halten vorsichtig Abstand und beobachten uns aber über ihre Schüsseln hinweg. Ich behalte sie aufmerksam im Auge.
Beim Essen lasse ich jeden Bissen im Mund zergehen, genieße den saftigen, vollen Geschmack, die knackige Frische der genau bissfest gekochten Rüben. Vater Alentín berichtet mir von einer Schafherde, die sich in einem versteckten Tal in der Nähe befindet, und er sagt, dass es dort auch Äcker gibt, auf denen Kartoffeln, Rüben und Karotten angebaut werden. Daher ermutigt er mich, so viel zu essen, wie ich mag, denn obwohl täglich Menschen ihr Leben im Krieg verlören, hätten sie doch immer noch Nahrung genug.
»Vater«, sage ich schließlich mit vollem Mund. »Alejandro, der König. Er weiß nicht, dass Ihr schon im Krieg seid.«
Traurigkeit erfüllt mich, als ich den Namen meines Ehemannes ausspreche. Ich hoffe, es geht ihm gut. Ich hoffe, er lässt nach mir suchen.
Alentín schüttelt den Kopf. »Natürlich weiß er das nicht, mein gutes Kind. Es hat ihm ja niemand erzählt.«
Ich kaue und schlucke. »Das verstehe ich nicht.«
»Wir wagen ihm nicht zu sagen, dass wir schon kämpfen, dass wir schon mehr Schlachten verloren haben, als wir zählen können. Seine Majestät, mag er ewig leben und gedeihen, bringt dem Bergvolk wenig Zuneigung entgegen. Er würde unsere Sache eher als verloren aufgeben, als
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