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Der Feuerstein

Der Feuerstein

Titel: Der Feuerstein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rae Carson
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das näher an der Grenze zu Invierne lag. Nachts blieb er oft mit seinen Schafen draußen. In menschlicher Gesellschaft fühlte er sich nicht besonders wohl. Eines Tages entdeckte er eine kleine Quelle, eigentlich nur ein feuchter Fleck. Es war in einem schmalen Tal, in dem es viel Schatten gab und auch viel Grün zum Grasen. Mit einer Wasserquelle wäre es ein idealer Ort gewesen, um ein Dorf zu gründen. Daher setzte er es sich zum Ziel, dort, wo sich die kleine Quelle befand, einen Brunnen zu graben. Aufgeregt erzählte er seiner Frau davon. Ich glaube, er nutzte es auch als Entschuldigung,
länger von zu Hause wegzubleiben. Sie war wohl keine einfache Frau. Aber er wurde niemals fertig.«
    »Was ist passiert?«
    »Er grub tagelang und hob ein großes Loch aus, so tief, wie ein Mann hoch ist, aber das reichte nicht; es sammelten sich darin nur ein paar Tropfen Wasser. Eines Tages dann rutschte eines seiner Schafe einen Hang hinunter und verfing sich in einem Brombeergestrüpp. Damián kletterte hinterher, aber er glitt auf losem Geröll aus, stürzte in die Tiefe und starb.«
    »Ich dachte, das sollte eine ermutigende Geschichte sein«, brumme ich finster.
    Er lächelt. »Sie ist ja auch noch nicht zu Ende. Sein Brunnen geriet in Vergessenheit, und Mesquitebäume überwucherten ihn. Fast zwanzig Jahre später kamen Kundschafter aus Invierne durch das kleine Tal, und sie wurden von einem Animagus angeführt. Die Männer aus Damiáns Dorf stellten sich mit ihren Speeren und Bogen auf dem Hügelkamm auf, und zahlenmäßig konnten sie es mit ihren Angreifern fast aufnehmen. Aber der Animagus sandte ihnen sein Feuer entgegen, und sie fingen an zu brennen. Sie wollten gerade fliehen und um ihr Leben laufen, als der Animagus ganz plötzlich verschwand. Zunächst hielten die Dorfbewohner das für einen neuen Zauber, etwas, das sie noch nie zuvor gesehen hatten, aber dann gerieten die Feinde in Panik. Die Dorfbewohner nutzten ihre Verwirrung aus, stürmten vom Berg hinab und töteten sie.« Er neigt sich leicht zu mir, und ich sehe seine Augen vor Vergnügen funkeln. »Später entdeckte man, dass der Animagus in Damiáns Brunnen gefallen war und sich den Hals gebrochen hatte.«
    Stirnrunzelnd sehe ich ihn an. »Also willst du damit sagen,
es sei Damiáns Aufgabe gewesen, diesen Brunnen zu graben? Einen Brunnen, der nicht mal fertig wurde?« Ist das möglich? Kann die Aufgabe auch in so schlichten Dingen bestehen? In so wenig ruhmreichen?
    Humberto zuckt mit den Schultern. »Als die Männer ins Dorf zurückkehrten, berichteten sie Damiáns Witwe von der Rolle, die ihr lange schon verstorbener Mann gespielt hatte. Sie zeigte ihnen seinen Feuerstein, den sie seit seinem Tod verborgen gehalten hatte. Und sie sagte, sie habe schon gewusst, dass etwas Wichtiges geschehen war, denn der Stein war in der Mitte geborsten.«
    »Der Stein war geborsten?«
    »Genau.«
    »Das kann doch nicht sein.«
    »Was meinst du damit?«
    »Ich habe Feuersteine gesehen. Alte, deren Träger schon viele Jahrhunderte tot sind. Sie waren allesamt heil.« Ich wünschte, ich hätte daran gedacht, Vater Nicandro zu fragen, ob diese Feuersteine von Trägern stammten, die eine erkennbare Aufgabe erfüllt hatten.
    »Nun, ich weiß nicht viel über die Feuersteine, aber ich weiß, dass mein Ururgroßvater das Dorf an jenem Tag rettete. Es war eine große Gruppe von Kundschaftern, und die Tatsache, dass sie von einem Animagus angeführt wurde, ließ darauf schließen, dass ihr eine sehr entscheidende Rolle zugedacht war. Bis dahin waren die Unmenschlichen eine reine Legende; man hatte zwar viel von ihnen gehört, aber noch nie einen gesehen. Es ist möglich, dass der Einmarsch Inviernes in unser Land durch Damiáns Brunnen jahrelang verzögert wurde.«

    »Vielleicht. Aber Damián erfuhr niemals, dass er seine Aufgabe erfüllt hatte.«
    »Nein, das wusste er nicht.«
    Ich lehne den Kopf gegen seine Schulter. Es ist schon komisch, dass ich die Gegenwart dieses Jungen als so viel tröstlicher wahrnehme als die meines Mannes. In Alejandros Nähe war ich immer viel zu durcheinander, um mich wirklich wohlzufühlen. »Du glaubst, dass ich meine Aufgabe erfüllen werde«, sage ich, »selbst wenn ich nicht erkenne, wie das geschieht?«
    »Ja.«
    Aber ich könnte unwissend sterben wie Damián oder schwere Verletzungen erleiden wie Homer. Wie ein Kalb zur Schlachtbank  …
    »Weißt du, Prinzessin«, sagt Humberto und fährt mir mit dem Daumen übers Kinn, »mein

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