Der Feuerthron
führte die beiden über das weiche, schimmernde Moos immer tiefer in den Wald hinein.
Meraneh war bisher nicht einmal in die Nähe des Waldes gekommen, daher konnte ihr nicht auffallen, dass auch er sich für den Krieg rüstete. Aber Hannez bemerkte die Pfeilbüsche, die schier aus der Erde zu wachsen schienen, Stück für Stück vorrückten und einen Ring aus Dornen um den Hexenwald legten. Zu ihnen gesellten sich auch jene schlanken Bäume, deren tentakelartige Äste wie in unterdrückter Erregung die Luft peitschten. Es sah ganz so aus, als würde der Wald sich auf einen baldigen Angriff vorbereiten.
Hannez fragte sich, ob die Bäume die Äxte der Gurrländer fürchteten oder etwas noch viel Schlimmeres, doch er wagte nicht, ihre geisterhafte Führerin danach zu fragen.
Nach einer Weile erreichten sie das Lager, das seine Begleiter errichtet hatten. Diese wurden nun auf Hannez aufmerksam und kamen erleichtert auf Meraneh und ihn zu. Die blaue Geisterfrau aber schien für die meisten unsichtbar zu sein. Nur ein junges, hochgewachsenes Mädchen mit quittengelben Haaren und gelb leuchtenden Augen deutete eine Verbeugung in Richtung des Geistes an und blickte dann mit sichtlicher Neugier auf Meraneh herab.
»Du bist also die blaue Hexe, die Hannez holen wollte. Ich bin froh, dass er es geschafft hat. Mir fällt es nämlich nicht leicht, die Verständigung mit den Geistern dieses Waldes aufrechtzuerhalten. Im Grunde bin ich nur eine Wetterfühlerin und habe mich nie mit echter Magie befasst.«
»Ich bin keine Hexe!«, rief Meraneh abwehrend. »Meine Mutter war eine, und meine Tochter wird vielleicht einmal eine werden – wenn sie lange genug lebt, heißt das. Aber ich ...«
Das gedankliche Lachen der Geisterfrau unterbrach ihre Rede. »Du solltest dich nicht kleiner machen, als du bist. In vielen Menschen schlummert eine Gabe, und es braucht meistens einen besonderen Anlass, sie zu wecken. Bei dir ist es nun geschehen.Du hast doch die verderblichen schwarzen Wolken über Ilynrah gesehen, nicht wahr?«
Meraneh zuckte zusammen. Wie es schien, hatte die Geisterfrau ihre Gedanken gelesen. Bisher hatte Meraneh sich nur wenig für die unangenehme Erscheinung über der Stadt interessiert. Dafür tobte der Schmerz über den Verlust des »Blauen Fischs« viel zu stark in ihrer Brust. Aber nun stieg die Erinnerung daran wieder in ihr auf, und sie ekelte sich noch nachträglich davor. Diese Dunstwolke hatte sich für sie angefühlt wie ein lähmendes Gift.
»Du bist auf dem richtigen Weg, mein Kind. Das Zeug ist ein magisches Gift, das den Mut der Leute untergräbt und sie, wenn die Gurrländer erscheinen, zu greinenden Kindern werden lässt. Wäre Torrix nicht verschwunden, hätte er es erkannt und bekämpft. Doch nun gibt es niemanden mehr, der diesen Verrat verhindern kann.« Die Geisterfrau klang zornig und verbittert.
Skeptisch betrachtete sie das kleine Grüppchen, das sich hier versammelt hatte und derzeit ihre gesamte Streitmacht darstellte. Dann blies sie in einer sehr menschlichen Geste die Backen auf und wies auf mehrere Büsche in der Nähe, die vor Beeren überquollen.
»Iss, Kind! Ich spüre, dass du Hunger hast. Dort ist auch Wasser.«
Meraneh hatte Hunger, hielt aber Blaubeeren nicht unbedingt für eine sättigende Mahlzeit. Außerdem wollte sie zuerst eine Frage beantwortet wissen. »Sag mir erst, wer du bist!«
Die Geisterfrau strich ihr in einer sanften Geste über die Stirn. »Man nennt mich Meravane, und ich bin die Erste in der Reihe der Mera-Hexen. Meine Eltern kenne ich nicht, denn man hat mich ihnen gleich nach meiner Geburt weggenommen. Sie dürften Sklaven des verderbten Magiers Wassuram gewesen sein. Lange Jahre war ich gezwungen, ihm zu dienen, doch im Großen Krieg gelang es mir, die Wardan zur Rebellion aufzurufen und mich mit den anderen Völkern und den Runi zu verbünden. Gemeinsam ist es uns gelungen, den Magier zu besiegen.
Ich selbst durfte Wassurams Ende nicht mehr miterleben, denn ich habe mich zu weit vorgewagt und bin bei einem Himmelfahrtskommando gefallen. Zum Glück ist meine Seele heil geblieben, und ich wollte zu Ilynas Seelendom gehen, um dort auf eine mögliche Wiedergeburt zu warten. Doch auf dem Weg dorthin zeigte mir eine Vision, dass ich bleiben müsse, weil meine Aufgabe noch nicht erfüllt sei. Da es nicht leicht ist, als Geist in der Menschenwelt zu bleiben, habe ich mich in diesem Wald eingenistet und ihn allmählich nach meinen Bedürfnissen gestaltet.
Weitere Kostenlose Bücher