Der Feuerthron
Sicherheit bringen zu dürfen, war sie zunächst einmal froh, dass es nicht weiterging. Es durfte immer nur eine Handvoll Leute gleichzeitig das wacklige, morsche Ding betreten. Früher war dieser Engpass kein Problem gewesen, da die Fischer meist direkt mit ihren Booten zur Stadt gefahren waren, um die bestellten Teile ihres Fangs drüben abzuliefern. Aber nun waren alle Boote beschlagnahmt worden und die meisten im Krieg verloren gegangen. Daher ballten sich nun mehrere hundert Leute am Ufer, die zumeist große Bündel mit dem Rest ihrer Habe schleppten, und warteten darauf, die Brücke betreten zu dürfen, denn die Stadtmauern jenseits des Flusses versprachen Sicherheit. Angst hatte die Menschen erfasst, so als sei der Feind schon in der Bucht aufgetaucht. Alle schrien durcheinander, Kinder weinten, und weiter vorne prügelten sich sogar einige darum, wer als Nächster hinübergehen durfte.
Meraneh hatte nicht viel mitgenommen, nur das wenige Geld, das sie noch besaß, ein Kleid zum Wechseln und ihr Essbesteck sowie den schönsten Krug aus ihrer Gastwirtschaft. Diesen hatten die Fischer ihr in glücklicheren Zeiten zur Hochzeit geschenkt, und daher wollte sie ihn behalten.
»Lasst doch die Leute hinüber!«, brüllten die Büttel und versuchten, ein wenig Ordnung zu schaffen.
Doch es schien, als hätte ein böser Geist die Leute gepackt. Etliche durchbrachen den Kordon der Büttel und stürmten den Steg, der bereits bedenklich wackelte. Eine alte Frau klammerte sich in ihrer Angst an dem Seil fest, das als Handlauf diente, und wagte nicht mehr weiterzugehen.
Daraufhin begann der Mann hinter ihr zu schimpfen. »Mach, dass du weiterkommst, du alte Vettel. Andere Leute wollen auch hinüber.«
Als die Alte nicht reagierte, riss er ihre Hände von dem Seil und wollte sie weiterschieben. Dabei verlor die Frau den Halt und stürzte mit einem gellenden Schrei in den Fluss.
Ein paar Jungen sprangen hinterher und brachten sie schließlich ans andere Ufer. Unterdessen hatten weitere Flüchtlinge den Kordon der Büttel durchbrochen und strömten unkontrolliert die Brücke. Ihre Schreie übertönten das Knirschen der überbeanspruchten Halteseile und splitternden Bretter. Dann kam es, wie es kommen musste. Mit einem Donnerschlag rissen die großen Taue, die den Steg trugen, und es hagelte Trümmer. Die Leute, die sich auf der Brücke befunden hatten, stürzten in den Fluss, und nicht jeder von ihnen konnte rechtzeitig geborgen werden.
Meraneh wandte ihr Gesicht ab und fragte sich, welcher Wahnsinn ihre Landsleute ergriffen hatte, sich so aufzuführen. Plötzlich packte jemand sie an der Schulter und zog sie herum. Sie wollte sich unwillig losmachen, sah dann aber, wer vor ihr stand.
»Hannez?« Bevor sie ihrer Freude Ausdruck geben konnte, legte ihr der Fischer die Hand auf den Mund.
»Sei bitte still. Es darf niemand bemerken, dass ich zurückgekehrt bin. Komm mit!«
»Wohin?«, quetschte sie zwischen seinen Fingern hervor.
»Erst einmal in den Hexenwald. Dann sehen wir weiter.« Ohne auf weitere Fragen einzugehen, hakte Hannez sie unter und zog sie zwischen den brennenden Häusern hindurch. Niemand achtete auf sie, denn alles drängte hinunter zum Fluss, um auf die andere Seite zu schwimmen oder einen Platz auf einem der Boote zu bekommen, die sich nun an der Evakuierungsaktion beteiligten.
9
Zuerst hatte Meraneh sich keine Gedanken ge macht, wohin Hannez sie bringen wollte. Sie war viel zu froh gewesen, ihn gesund und munter vor sich zu sehen. Als er jedoch den Weg nach Süden einschlug und sie bald darauf in der Ferne das blaue Glimmen des Hexenwaldes vor sich sah, blieb sie stocksteif stehen.
»Nein! Nein! Nein! Dorthin bringen mich keine sechs Pferde!«
Hannez streichelte sie und versuchte, aufmunternd zu lächeln. »Die Zeiten haben sich verändert, Meraneh. Glaube mir, der Wald ist unser Freund. Eigentlich war er nie wirklich feindselig, sondern wollte nur seine Ruhe haben. Doch jetzt braucht er uns genauso dringend, wie wir ihn brauchen.«
»Nein, danke! Ich habe genug über ihn gehört und daher nicht vor, ihn zu betreten.« Meras Mutter wand sich aus Hannez’ Armen und wollte umkehren.
Hannez versperrte ihr den Weg und sah sie flehend an. »Du kannst mir vertrauen. Der Wald ist auf unserer Seite.«
»Aber du hast doch selbst so viel Angst vor dem Wald gehabt, dass du nicht einmal mit Mera hineingehen wolltest!«
»Das ist richtig. Als ich die Kinder dorthin gebracht habe, konnte ich ihn nicht
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