Der Feuerthron
Giringars.
Der Gedanke, dass Menschen gezwungen wurden, eine andere Farbe anzunehmen als die, die ihnen ihre Götter bei der Geburt verliehen hatten, entsetzte Mera. Diese Leute vergaßen, wer einst ihr Gott oder ihre Göttin gewesen war; ihre Geister würden nachihrem Tod hilflos herumirren, ohne den Weg zu dem Seelendom zu finden, in den sie gehörten, und sich stattdessen einfach auflösen. Damit waren sie so tot wie eine zerquetschte Fliege, ohne Hoffnung auf eine glückliche Existenz in der Obhut ihres Gottes oder eine Wiedergeburt. Das war das Schlimmste, was man einem beseelten Lebewesen antun konnte. Bei dieser Erkenntnis schwor Mera sich, den Kaiser zu stürzen, selbst auf die Gefahr hin, selbst eine gnadenlose Herrscherin auf dem Feuerthron zu werden. Eines würde sie auch dann niemals tun, nämlich Menschen ihrer natürlichen Farbe entreißen.
»Denk nicht so zornig! Hier sind überall Wachartefakte.« Hekendialondilans Warnung kam gerade noch rechtzeitig. Mera atmete tief durch und sandte ihrer Runifreundin ein Symbol, dass sie sich wieder beruhigt hätte.
Ein Zauber staute das Wasser unter dem Kiel der Schaluppe, so dass sie bis in das Zentrum des Reiches hochfahren konnte, und ein magischer Wind sorgte dafür, dass sie mit guter Geschwindigkeit vorankam. Als das Boot die Hauptstadt Gurrlands erreichte, schüttelte es Mera bei dem Anblick der kunstlos errichteten Bauten, die sich, soweit sie es erkennen konnte, schachbrettartig aneinanderreihten. Tempel, Paläste und die Villen der Wohlhabenden, die sonst an den Stellen mit der schönsten Aussicht errichtet wurden, schienen völlig zu fehlen. Der Markt der Stadt, der sich direkt am Hafen befand, sah schmutzig aus und wirkte erbärmlich. Das wunderte Mera, denn es wurden ja Waren von fast allen Inseln des Archipels hierhergebracht. Auf dem Hauptmarkt in Ilynrah und sogar auf dem Fischmarkt in dem Sechstel, in dem sie aufgewachsen war, herrschte weitaus mehr Leben.
In dieser Stadt schienen die Leute nicht aus Freude an schönen oder nahrhaften Dingen auf den Markt zu gehen, sondern weil die Not sie trieb. Es wurde nicht gefeilscht oder gestritten. Die Käufer kamen, wiesen auf das, was sie wollten, und zahlten den Preis, der ihnen genannt wurde. Danach verschwanden sie wieder wieSchatten, und nichts deutete mehr darauf hin, dass sie hier gewesen waren. Sie eilten so hastig herbei, als würde ihnen die Zeit unter den Fingernägeln brennen, machten kaum den Mund auf und rannten schnell wieder davon. Auch konnte Mera keinen fröhlichen Ausruf vernehmen oder einen kurzen Schwatz beobachten.
»Wie geht es nun weiter?«, meldete Girdhan sich. Auch er wurde ungeduldig, denn seit ihr Schiff angelegt hatte, tat sich nichts.
»Wir warten erst einmal ab. Girdhalas Gewährsfrau war sich sicher, dass die Kisten in die Hallen des Kaisers gebracht würden. Wenn es Nacht wird und noch immer nichts geschehen ist, werden wir sie öffnen und uns auf eigene Faust durchschlagen!«
»Mit öffnen geht bei mir nichts. Meine Kiste ist zwischen anderen eingekeilt, und deine steht genau darauf. Ich muss warten, bis du freikommst und mir helfen kannst«, antwortete er missmutig.
Girdhan war der stärkste von ihnen, und es gefiel Mera nicht, dass ausgerechnet er sich nicht von selbst befreien konnte. Dennoch versuchte sie, ihn zu beruhigen. »Keine Sorge! Sobald ich draußen bin, hole ich dich da raus.«
»Seid still, es kommt jemand!«
Hekendialondilans Warnung ließ sie verstummen. Mera blickte wieder durch ihr Astloch und sah einen stämmigen Mann auf das Schiff zukommen. Es war der erste Gurrländer, den sie ohne eine Rüstung sah. Er trug einen langen, schwarzen Talar und eine eng anliegende Mütze in der gleichen Farbe, und nach seiner Miene zu urteilen, schien er sich sehr wichtig zu nehmen.
Er stieg an Bord, ließ seinen Blick über die Kisten schweifen und winkte den Kapitän mit einer herrischen Handbewegung zu sich. »Was soll das? Da ist ja alles durcheinander. Die Vorschrift besagt, dass nur Fracht von einer Farbe auf ein Schiff geladen werden darf. Was ist, wenn Gegenfarben zusammenkommen? Dann geht alles hoch, und das Schiff ist samt der Ladung verloren!«
Der Kapitän verzog abwehrend das Gesicht, holte aber seine Bescheinigungen hervor und hielt sie dem anderen vor die Nase.»Hier, sieh! Die gesamte Fracht gehört zur Gefahrenstufe null und ist daher harmlos. Außerdem habe nicht ich das Schiff beladen, sondern die Sklaven auf Girdania, und die hatten ihre
Weitere Kostenlose Bücher